Quelle: uni nova Entschlüsselung der genetischen Information: DNA-Doppelhelix DNA - Der entzauberte Mensch Die Wissenschaft will den menschlichen Gen-Code knacken - im Volk wächst die Kritik vor der genetischen Überwachung VON PETER KNECHTLI Seit Wissenschafter den Gen-Code des Menschen knacken, wächst der Appetit auf die brisanten Daten. Gleichzeitig fürchten immer mehr Menschen die totale Entblössung vor Justizbehörden, Privatunterehmen - und sich selbst. Odilo Guntern, der oberste Schweizer Datenschützer, warnt im Interview mit OnlineReports vor den Risiken eines Missbrauchs. Immer bei Vollmond schlug der Täter zu. Drei Vergewaltigungen und ein misslungener Versuch schreckten die Region Basel auf. Wochenlang blieb die Verbrechensserie vom Frühling in den Sommer 1995 ungeklärt. Bekannt war einzig, dass es sich beim Verbrecher um "einen Schwarzen" handeln soll. Da entschloss sich der damalige Staatsanwalt Max Imhof zu einem neuartigen Schritt: Er nahm allen Schwarzhäutigen, die auf das Signalement passten, Blut zum Gen-Test. Durch den Vergleich von Blut- und Spermaspuren hoffte Imhof den Verbrecher zu überführen. Hans Peter Kalbermatten, damals Ermittler in der Gruppe, "Leib, Leben, Sexualdelikte", erinnert sich nur noch an eine "unheimlich grosse Zahl - sicher mehrere hundert" Ueberprüfungen. Schwarze Besucher einer "Black Night" im Kulturtreffpunkt "Kuppel" wurden gleich reihenweise zur Ader gelassen. "Wir konnten nicht einfach zuschauen, bis die nächste Frau vergewaltigt wird. Wir mussten alle Möglichkeiten ausschöpfen", begründet Kalbermatten, weshalb seine Fachgruppe Basler Quartiere "während den Vollmondphasen nächtelang observierte". Ende Juli konnte der Täter überwältigt werden. Er lauerte, zum nächsten Uebergriff bereit, in einem Gebüsch. Die damalige "Aktion Luna" machte die Ermittler erstmals mit einem Fahndungswerkzeug der neuen Dimension vertraut, auf das sie heute nicht mehr verzichten möchten. "Rein kriminalistisch" wäre es für Markus Melzl, den Sprecher des Basler Kriminalkommissariats, "verlockend, jedem Neugeborenen gleich bei der Geburt das DNA-Profil zu nehmen". Hinter dem Kürzel DNA steht der chemische Stoff Desoxyribonukleinsäure, der sich als Molekül in jedem Zellkern des menschlichen Körpers befindet und die Erbsubstanz hütet. Eine kriminologische Analyse dieser Säure, meist aus dem Speichel der Wangenschleimhaut gewonnen, ergibt eine 30stellige Buchstaben- und Zahlenkombination (vgl. Grafik oben), die als "genetischer Fingerabdruck" gilt und als "unverwechselbarer biologischer Code" die menschliche Identität beschreibt. Ob Speichel, Sperma oder Sekrete, Haar, Hautschuppe oder Zigarettenstummel - mikroskopisch kleine organische Spuren reichen den Analytikern aus, um das genetische Profil eines Menschen zu bestimmen. Grund: Dank der PCR-Methode können winzige Spuren beliebig oft vervielfältigt werden. Die Methode wird schon weltweit angewendet. Zu den offensivsten Anwenderstaaten im Bereich der Verbrechensbekämfung gehört Grossbritannien, wo die Behörden erstmals eine Massenerfassung von mehreren tausend Männern organisierten, um einen Vergewaltiger zu überführen (vgl. Kasten). In Niedersachsen unterzogen sich letztes Jahr nach dem Sexualverbrechen an der elfjährigen Christina Nytsch 15'000 Männer einem DNA-Test, darunter auch der Mörder, der 75 Tage nach der Tat gefasst wurde. Auch in der Schweiz hat die kriminologische Gen-Analyse bereits ihre junge Erfolgsgeschichte. So konnten die 78 Knochen, die am 14. Januar 1998 in Kehrichtsäcken am Stauwehr in Spiez gefunden wurden, dem 27jährigen Adulai Djalo aus Guinea-Bissau zugeordnet werden. Dank DNA-Profil fasste die deutsche Polizei letztes Jahr einen Wiederholungstäter, der im Sommer 1995 in Oberglatt eine 26jährige Autofahrerin vergewaltigt hatte. In der Fricktaler Gemeinde Wittnau wurde der Gemeindeammann nur deshalb als Urheber anonymer Belästigungsschreiben entlarvt, weil ein nach einer Gemeinderatssitzung konspirativ konfiszierter Mineralwasser-Pappbecher dieselben Speichelspuren trug wie die Briefmarken der Schmähbriefe. In Herisau überführten Haare an seiner Mütze einen Einbrecher, der die Tat leugnete. "Gefährliche soziale Ausgrenzung" Die Revolution der Genetik an der Schwelle des Jahrtausends verändert die Welt wie die Industrialisierung. Sie selektioniert die Erdbevölkerung nicht mehr in Nationalitäten oder Kontinentalangehörige, sondern - software-gesteuert - in Gesunde und Kranke, Konforme und Kriminelle, Begabte und Ungeschickte. Wissenschafter der "Human Genom Organisation" haben sich zum Ziel gesetzt, bis ins Jahr 2005 das gesamte menschliche Genom zu entschlüsseln. 10'000 von insgesamt gegen 100'000 menschlichen Genen sind schon identifiert. Schon heute lässt die medizinische Gen-Analyse Aussagen zu, die noch vor wenigen Jahren als Propheterie galten und jetzt einen Namen haben: "Präsymptomatische Medizin". Mit dieser Methode schufen Wissenschafter ein Werkzeug, das den Ausbruch von Erbkrankheiten voraussagen kann - und so den Schleier des Schöpfungsgeheimnisses lüftet. Durch die Entzauberung des menschlichen Organismus könnte das kollektive Wert-Schema aus den Fugen geraten. Bereits knacken Forscher den Schicksalsweg des Lebens im Labor: Die Gen-Analyse verrät ihnen sogar die Veranlagung zu Gewalttätigkeit, Sucht, Fettleibigkeit oder gar Homosexualität. "Das ist eine völlig neue Sichtweise, die ganz gefährliche soziale Ausgrenzungen zur Folge haben können", spricht der Zürcher Molekularbiologe Daniel Ammann aus, was selbst aktiven Gentestern schwant. "Es müssen Gesetze entstehen, die rigorose Schranken setzen, wann die DNA-Analyse zur Anwendung kommen soll." Wie gnadenlos die Neuen Technik sein kann, erlebte ein 35jähriger Baufachmann ohne stichfestes Alibi im Kanton Zürich, der nach einer Serie von Sexualdelikten an Mädchen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes einen Speicheltest verweigerte und schliesslich auf Geheiss des Bundesgerichts dazu gezwungen wurde: Er wurde der Tat bezichtigt, obschon der Test schliesslich negativ verlief. Ganz anders die Optik des zuständigen Bülacher Bezirksanwalts Christoph Naef. Nach seiner Meinung ist die Speichel-Analyse im Interesse der Verdächtigten: "Sonst müssten die Ermittler Bekannte und Arbeitgeber aufscheuchen. Die DNA-Analyse ist viel diskreter und aussagekräftiger als alle mündlichen Abklärungen." Ob für Einzelpersonen-Untersuchung oder Massenscreening - die Labors sind schon heute auf neustem Stand. Die individuelle Untersuchung kostet laut Christian Gehrig, Molekularbiologe im Institut für Rechtsmedizin der Univesität Bern, 650 Franken. Im Fall der noch "sehr seltenen Massenscreenings" wie jenem nach der Kindervergewaltigung in Bülach kam der Test pro Person auf 200 Franken zu stehen. Hautauftraggeber sind Justiz- und Polizeibehörden. Innerhalb von 48 bis 72 Stunden liegen die Analysen vor. Doch die Technik schreitet rasch voran. Laut Peter Brodmann, Genspezialist im Kantonalen Labor Basel-Stadt, das unter Kantonschemiker André Herrmann im Bereich von Tier- und Lebensmittelanalysen über die Landesgrenzen hinaus methodische Pionierarbeit leistete, steht die DNA-Analyse im nächsten Jahrzehnt vor einem technologischen Entwicklungssprung: Mikro-Biochips analysieren einen Tropfen Blut in kürzester Zeit und liefern gleich Serien-Ergebnisse - beispielsweise, ob eine Veranlagung zu Allergien, Krebs oder Verbrechen besteht. Das Interesse der Pharma- und Versicherungskonzerne Was in den Labors der führenden Genetiker an Chancen und Gefahren keimt, ist der Gesellschaft noch kaum bewusst. Sicher aber ist, dass mächtige Interessengruppen weit über die Kriminologie hinaus grosse Hoffnungen in das mit Abstand weitreichendste menschliche Forschungs- und Kontrollwerkzeug setzen. Pharmakonzerne, die sich ohne Gentechnologie nicht mehr vorstellen lassen, eignen sich schon mal genetische Ressourcen eines ganzen Volkes an (vgl. Kasten über Hoffmann-La Roche). Das Ziel ist es, auf diese Weise bisher unbekannten Krankheits- oder Resistenzgenen auf die Spur zu kommen und die Erkenntnisse bei der Entwicklung neuer Pharmaka einzusetzen. Auch Versicherungskonzerne sind auf die DNA-Daten scharf, wenn es um den Abschluss einer nicht-obligatorischen Versicherung - beispielwesie einer Lebensversicherung - geht: Sie wollen verhindern, dass Interessenten, die aufgrund einer Genanalyse mehr über eine bevorstehende Erkrankung oder eine geringe Lebenserwartung wissen, noch schnell ein Versicherungsgeschäft abschliessen. In Haftpflichtfällen kommt die genetische Abklärung genauso zur Anwendung wie beim einwandfreien Nachweis von Vaterschaften oder präsidialer Samenflecken auf blauen Röckchen. Länder wie China betreiben mit DNA-Daten unter dem Anspruch der "Volksgesundheit" behördliche Eugenik. Im Zentrum stehen vorgeburtliche (pränatale) Untersuchungen, die nach staatlichen Vorgaben über Austragung oder Abtreibung entscheiden. Dies sehr zum Missfallen westlicher Staaten, die durch die Anwendung des abschreckenden Beispiels die Akzeptanz der Technologie gefährdet sehen. Es ist bester Stoff für Science-fictions: Der Lebensweg eines Menschen - von der Schulbildung über den beruflichen Werdegang bis zur Partnerwahl - wird schon vor der Geburt genetisch vorbestimmt. Die menschliche Identität reduziert sich auf die DNA-Chiffre, die genetische Disposition des Menschen bestimmt seine Stellung in der Gesellschaft. Das Persönlichkeitsrecht ist ausser Kraft, der Datenschutz ausser Kontrolle. Grosses Missbrauchs-Potential Wenn die Gen-Analyse zum Nukleus wichtiger Lebensentscheidungen wird, könnte sich ein Missbrauchspotential eröffnen, zu dem sich die früheren Staatsschutzfichen wie Kinderspiele ausnehmen. Odilo Guntern, der oberste Schweizer Datenschützer, geht in einem OnlineReports-Interview davon aus, dass die Risiken im Umgang mit der DNA-Technik "die Menschheit in ihrer bisherigen Form gefährden" können. Alexandre Plassard vom Schweizerischen Arbeitgeberverband hat keine Bedenken: "Zu Panik besteht kein Anlass", wehrt er ab. Bioethik-Konventionen, Verfassungbestimmungen und Gesetzesparagrafen würden verhindern, dass sich die globale Gesellschaft nach Horror-Szenarien entwickelt. In der Schweiz ist bis Ende März ein "Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen" in der Vernehmlassung, das sich bemüht, die Würde des Menschen über partikulare Dateninteressen zu stellen. Justizminister Arnold Koller beteuert, medizinische Gen-Untersuchungen dürften nur zu prophylaktichen oder therapeutischen Zwecken durchgeführt werden. "In keinem Fall" dürften pränatale Tests darauf abzielen, Eigenschaften des Embryos oder des Fötus, welche die Gesundheit nicht beeinträchtigen, zu ermitteln". Diese Meinung vertritt auch Alexandre Plassard, der als Arbeitgeber-Vertreter der Expertenkommission angehörte. Entschieden widerspricht er dem Vorwurf, die Patrons seien aus Gründen der Personalentwicklung insgeheim scharf auf die DNA-Risikoprofile ihrer Mitarbeiter und Stellenbewerber: "Es ist nicht die Aufgabe der Arbeitgeber, DNA-Daten zu sammeln. Auch erhalten sie keine Kenntnis von der genetischen Veranlagung. Dies wäre ein Verstoss gegen das geplante Gesetz." Dass der Gesetzesentwurf dennoch Untersuchungen "im Arbeitsbereich" regelt, erklärt Plassard mit zwei Ausnahmeregelungen, beide "zum Schutz des Arbeitnehmers": Im Falle von Risikoberufen - Piloten, Benzintank-Camionneure, Postauto-Chaffeure, Dachdecker, Kranführer - und zum Schutz ihrer Gesundheit an sensiblen Arbeitsplätzen, so beispielsweise Tätigkeiten mit gefährlichen Substanzen in der Chemieindustrie oder mit Strahlenbelastung verbundene Forschungstätigkeiten. Denn in 80 bis 90 Prozent der Berufsunfälle sehen Experten "nicht technische Fehler" als Ursache, "sondern Faktoren, die dem Menschen zugerechnet werden müssen". Auch der Datenschutz ist laut Plassard durch die geltenden Bestimmungen und das Berufsgeheimnis des analysierenden Arbeitsarztes vollkommen gewährleistet: "Die Arbeitgeber wollen nur wissen, ob der Arbeitnehmer gesundheitlich für die Stelle geeignet ist." Schon heute müssten sich von der SUVA definierte Risikoberufsleute testen lassen. Ueberdies, so Plassard, "testet der Arbeitsmediziner nicht die ganze Palette, sondern nur das, was für die Erfüllung der Arbeit erforderlich ist". Für unzulässig hält Experte Plassard auch die Annahme, DNA-Daten liessen Arbeitgeber besser abschätzen, ob sich eine Investition in eine teuere Mitarbeiter-Ausbildung oder in eine Beförderung auszahle: "Es ist für Arbeitgeber überhaupt nicht relevant, wie eine Person in zehn Jahren aussieht. Entscheidend ist, was der Arbeitnehmer heute bringt." Recht auf Nichtwissen Mit dem Gesetzesentwurf gar nichts anfangen kann dagegen die grüne Basler Nationalrätin Margrith von Felten: "Das ist das Ende der persönlichen Freiheit. Das Gesetz läuft unter dem Aspekt der Freiwilligkeit, dabei ist die totale Entmündigung." Die Politikerin findet den Gedanken "unerträglich", dass Menschen durch die DNA-Analyse gegen ihren Willen ihr künftiges gesundheitliches Schicksal erfahren: "Es ist für eine Person eine krasse Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, wenn sie erfährt, dass sie an Krebs erkranken wird." Das Mitglied der nationalrätlichen Rechtskommission postuliert denn auch ein "Recht auf Nichtwissen". Juristin von Felten: "Meine Horror-Vision ist nicht mehr das Diktat eines Regimes, sondern die Gefahr, aufgrund einer genetischen Analyse ein Leben lang als Belastung für die Allgemeinheit zu gelten." Die Gentech-Gegnerin sieht in den gesetzlich geplanten Beratungsstellung blosse Zentren der "Akzeptanz-Beschaffung". Eine Genanalyse will sie nur "bei begründetem Verdacht auf eine Erbkrankheit" zulassen. Ansonsten fordert sie generelle Verbote von Gen-Datenbanken bei Justiz- und Asylbehörden, Versicherungen und in der Arbeitsmedizin. Ebenso sollen kriminalistische Reihenuntersuchungen verboten werden. Dieser Standpunkt widerspricht den Interessen der Justizbehörden diametral. Ende Januar schlug eine Expertenkommission den Aufbau einer zentralen DNA-Datenbank mit jährlich rund 10'000 Profilen "erkennungsdienstlich behandelter Personen" vor. Dazu zählen laut Falco Galli, Sprecher des Bundesamtes für Polizeiwesen, zwar "keine Zeugen", aber Kleinsttäter. Die Experten schlagen vor, einen "möglichst grossen Personenkreis" zu erfassen. Das Kalkül der Strafverfolger: Jeder Schwerverbrecher war schon Kleinkrimineller, folglich müsse die Erfassung tief ansetzen. Dank der Datenbank sollen wöchentlich 30 bis 50 Uebereinstimmungen ("Hits") zwischen Tatortspur und DNA-Profil eines Verdächtigen festgestellt werden. Die Experten sehen "dringenden Handlungsbedarf": Bis die gesetzliche Grundlage geschaffen ist, soll die Datenbank während einer Uebergangsfrist auf Verordnungsbasis betrieben werden können. Den Datenschutz (vgl. Interview mit Odilo Guntern) halten die Experten nicht für überaus problemaltisch, zumal "auch eine Vertreterin des Datenschutzbeauftragten in der Kommission mitgewirkt hat" (Galli): Es würden anders als bei medizinisch-genetischen Untersuchungen "nur Profile ohne Rückschluss auf irgendwelche Veranlagungen oder Vererbungen erhoben". Wird ein Angeklagter freigesprochen, beteuert der Berner Rechtsmediziner Christian Gehrig, "wird er in der Datenbank gelöscht". Am 23. April wird die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren an ihrer Frühlingsversammlung über das weitere Vorgehen entscheiden. Ob die Gen-Datenbank allerdings dereinst halten wird, was ihre Promotoren heute versprechen, scheint zumindest fraglich. Im Fall der Basler Vergewaltigungsserie verriet sich der Täter selbst, die Polizei hatte ihn zuvor nicht bemerkt: Er sprang aus einem Gebüsch, als sich ihm zufällig ein Streifenwagen näherte. Er war auch nicht "Schwarzer", sondern Maghrebiner.
24. März 1999 |
Zurück zu Gesellschaft
Zurück zur Hauptseite
© by Peter Knechtli