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Neuere Premiere-Besprechungen


Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 19. Februar 2004
Schweizer Erstaufführung
Elementarteilchen
Ein Stück Gegenwart nach dem Roman von Michel Houellebecq
Autor: Houellebecq/Hirche
Regie: Albrecht Hirche
Mit Bolle, Jung, Lange, Müller, Scharf, Telgenkämper

Die Lust am untersten Plafond



Noch kaum je ist das Theater-Publikum im neuen Haus einer Premiere mit derart angespannter Konzentration gefolgt wie der Schweizer Erstaufführung von „Elementarteilchen“ nach dem „Skandal“-Bestseller von Michel Houellebecq. Schenkte das Geschehen auf der Bühne mal Gelegenheit zu einem kurzen Lacher, das Publikum schnappte verschreckt danach.

Nicht die Inszenierung oder das herzhafte Spiel des Ensembles aber waren das Bezwingende. Nein, Regisseur Hirche vermochte diesem Publikum Houellebecqs Logik als unentrinnbar vorzuführen: Nach der sexuellen Libertinage der Hippies lebten wir nunmehr in einer Art Sexual-Kapitalismus, in dem die körperlich und psychisch Wohlgebildeten eine Herrenklasse der Lust-Bedienten bildeten, und den Hässlichen nur Ghettoisierung und Leiden bleibe. Dieses Leiden allerdings hole, so die Logik Houellebecqs, fast jede und jeden nach 40 ein. Dann folge Zerfall, Panik, Tod.

An diesen Punkt setzt der Autor die Halbbrüder Michel und Bruno, die schon zuvor zu den Verlierern gehörten. Ihnen wird ein letzter Frühling gewährt, der bei beiden brüsk endet. Annabelle, Michels Jugendfreundin, stirbt an Krebs, und Brunos Geliebte Christiane stürzt sich unheilbar krank in den Tod.

Die Schlüsselszenen, direkt aus dem Roman übernommen, strotzen vor Verzweiflung und einer Traurigkeit, der keine der Personen nachgibt. Der Sex ist nurmehr ein Akt körperlich ausgeführten Trostes. Die Halb-Brüder treffen sich, um zu monologisieren und zu saufen. Niemand fühlt sich zur Liebe fähig, aber alle wollen geliebt werden. Durch den meterhohen Maschendrahtzaun auf der Bühne, der eine Ferien-Camp-Szenerie unterbricht, führt ein Türchen, aber überwinden lässt er sich nie. Zwei Personen in Weiss figurieren als zynische Moderatoren, Psychologen und Erzähler. Ein Bildschirm über der Bühne liefert doppeldeutige Schlagworte wie „Esprit“ oder Jugend-Biografien in Form einer Dia-Show.

Im Epilog dann der Moment der Wahrheit an diesem Abend: Michel, der autistische Forscher, forderte das Publikum direkt zum Widerspruch auf gegen seine Entwürfe einer faschistischen Klon-Welt. Das humanistische Basel lächelte und schwieg.

20. Februar 2004

Wertung ***


**** Genuss
*** Kurve gekriegt
** unbefriedigend
* ärgerlich

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"Doch ein bisschen sehr langweilig"

Ich würde nur zwei Sterne geben. Hingegen, und im Gegensatz zu Claude Bühler, den "Sexuellen Neurosen unserer Eltern" klar drei. Ich mag die Bücher von Michel Houellebecq sehr und ich stosse mich auch nicht daran, wenn auf der Bühne ausgiebig vom Schwanzlutschen die Rede ist. Aber was das Theater Basel hier bietet, ist denn doch ein bisschen sehr langweilig. Auftritt von links oder von rechts oder von hinten, Bühnentechnik ein bisschen auf oder ab und vor allem und immer wieder Text aufsagen. Im Rahmen der Zürcher Festspiele (http://www.zuercher-festspiele.ch) wird Johan Simons (mit André Jung übrigens) das Stück im Juni ebenfalls inszenieren. Bin gespannt, wie dieser Vergleich ausfallen wird.

Hans Stalder
Basel



Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 3. Februar 2004
Unterricht in der Kunst, die Fröhlichkeit nicht einzubüssen
Unterhaltender Walser-Abend
Keinakter von Ruedi Häusermann mit Texten von Robert Walser
Regie: Ruedi Häusermann
Mit: Bantzer, Douglas, Erdmann, Hubacher, Hug, Jucker, Reinke
Musik: Ruedi Häusermann und das WeshalbForellenQuartett

Eindringliche Bilder



Den wirklichen Fan begeistert ja alles von seinem Idol, nicht nur die Kunstwerke, sondern auch die Späne, die das Genie hinterlässt, die Versuche, seine krankhaften Eigenwilligkeiten und Umstände.

Ein solcher Fall scheint der 56-jährige Lenzburger Musiker Ruedi Häusermann zu sein, der vor 10 Jahren erstmals einen Walser-Abend inszenierte. Seinen konzertanten „Unterrichts“-Abend beginnt er mit kurzen Lesungen: Eine Schauspielerin oder ein Schauspieler sitzt am Holztisch vor einer mannshohen, tapezierten Kulissenwand und liest in diesem Mini-Ambiente aus dem Prosa-Werk vor. Ergreifend gute Literatur, witzig, eigenständig und dramatisch.

Häusermann geht’s aber nicht allein um die Wirkung des Texts, sondern um die rastlose Achtsamkeit des Dichters. Hauchzarte Flageolett-Klänge des Streichquartetts lässt er in die Stille klingen. Fast immer gibt’s parallele Handlungen. Fast immer liegt der grösste Teil der Bühne im Halbdunkel, wo Kulissenwände, Stühle und Tische dauernd neu arrangiert werden, wo Personen kurz im Streulicht auftauchen und wieder hinter Wänden verschwinden. Das aber wird nie Geisterbahn, sondern inneres Bild einer Persönlichkeit, die wie mit dem Nachtsichtgerät die Bewegungen im Dunkel des Unbewussten observiert. In einer Beizen-Szene werden Gesprächsfetzen und Gelächter wie musikalische Formeln dirigiert. Das sieht lustig aus und hört sich unheimlich an.

Verwaschen wirken die Momente, wenn das Ensemble scheinbar private Spässe mit dem Text treibt. Überhaupt: Fan Häusermann präsentiert mit seiner Collage viel Nettes und Gefälliges, sein Idol dagegen kämpfte einsam um Unmissverständlichkeit und Reinheit. Dies scheint Häusermann als Lebensopfer aufzufassen: Am Schluss tragen alle wie bei einem Totentanz ihre Kulissenwand, ihren Stuhl und ihren Tisch von der Bühne.

Leider werden nicht alle Text-Passagen mit der nötigen Sensibilität vorgetragen. Oft mangelts nicht nur an der Einfühlung sondern auch an der Technik.

Erlebenswert ist der Abend wegen eindringlichen Bildern und der Attraktivität des Dichters. Salopp gesagt, wer hat im Verlauf dieser Premiere nicht wenigstens ein Mal den Gedanken gehabt: Ich muss unbedingt mal (wieder) Walser lesen?

4. Februar 2004

Wertung ***


... und Gratulation an Johanna Bantzer für den Ophüls-Preis

**** Genuss
*** Kurve gekriegt
** unbefriedigend
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"Diese Kritik macht richtig Lust"

Ich konnte leider an der Première nicht dabei sein - aber diese Kritik macht richtig Lust darauf, bald eine der nächsten Vorstellungen anzuschauen! Danke!

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 24. Januar 2004
"Odyssee"

Ein Heimkehrermythos nach Homer
Mit einem Epilog von Lukas Bärfuss
Regie: Lars-Ole Walburg
Mit: Bettini, Bihler, Brömmelmeier, Hüller, Lotzmann, Stadelmann, Wahl,
Wrage, Zimmermann
Freier: Boithiot, Etcheverry, Naujoks, Schucan, Waser

Odysseus als Pantoffelheld

Am Schluss Blut überall, überall auf der Bühne. Odysseus hat die Freier seiner Gattin Penelope endlich getötet. Jetzt liegen sie in ihren Smokings herum. Der Held (Brömmelmeier) sitzt vorne am Bühnenrand wie ein Altersheim-Bewohner in seinem Sessel und starrt ins Publikum. Daneben hält seine Gattin Penelope (Wrage), stehend, einen verhärmten Schlussmonolog über ihr mit Warten vergeudetes Leben, dass die Stühle im vollbesetzten Schauspielhaus unter ungeduldigen Hintern knarren. Als das Licht ausgeht, geht es lange Sekunden, bis das Publikum einen langen Applaus beginnt. Nach diesen zweieinhalb Stunden entdeckt man, dass der Spaziergang nach Hause durchaus intensive Momente bieten kann.

Aus dem „schönsten Abenteuer-Roman“ (Epilog) ist eine spannungsarme Vorführung des Traumas des modernen Menschen geworden: die Leere. Zu unendlich langweiligen Latino-Nummern tanzt eine langweilige Penelope den ganzen Abend lang mit unendlich langweiligen Herren (die Freier), die ungeschickt dastehen, rauchen und direkt ab Flasche Wein in sich hineingiessen.

Selbst die Abenteuer des Odysseus, der immerhin mit seiner Erfindung des trojanischen Pferdes die Stadt eroberte, dem menschenfressenden Riesen-Zyklopen einen glühenden Spiess ins Auge rammte und aufregende Stürme überstand: Das Seemannsgarn eines schmalbrüstigen, liebenswürdigen und auch feigen Mannes bei einem Gelage, der bei Töchtern edler Herren Liebe und Ruhe sucht. Pallas Athene (Hüller) zieht ihn wie ein liebes Engeli an den Haaren aus dem Sturm, weckt ihn aus der Beklemmung einer müden Liebschaft und schubst ihn mit Appellen an sein Gewissen heim zu Penelope.

Scheinbar illusionslos wirkt der Blick hinab auf das leere Dasein auf der leeren Holzbühne, auf der man den reichsten Mythos unserer Zivilisation als Kleinbürgerdrama vorstellt. Um diesen Effekt zu verstärken, besetzte man die Freier mit Laiendarstellern aus dem Schwulen-Party-Milieu, denen die geübte Bühnen-Plastik eines Schauspielers fehlt. Wie Nausikaa, eine junge Frau, ohne jedes komödiantische Zutun rhythmische Gymnastik übt, wird im Publikum gelacht. Worüber? Vielleicht ist es ja … Verachtung?

25. Januar 2004

Wertung **

**** Genuss
*** Kurve gekriegt
** unbefriedigend
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"Mit zwei Sternchen einverstanden"

Die "Kraft des positiven Denkens" führt mich zu folgendem Schluss: Wenn die "Odyssee"-Inszenierung von Lars-Ole Walburg etwas Gutes hatte, dann dies: Zum ersten Mal bin ich mit den zwei Sternen als Beurteilung durch Claude Bühler einig (ehrlich gesagt, ich hätte sogar nur einen gegeben).

Was ist da passiert? Wenn es die Abschieds-Inszenierung von Lars-Ole Walburg gewesen wäre, hätte ich ja das wiederholte Zitieren von Szenen und Abläufen aus früheren Produktionen vielleicht noch witzig gefunden - aber so?

Nicht einverstanden bin ich damit, dass Claude Bühler mutmasst, das Publikum habe nach dem gymnastischen Auftritt der Nausikaa mit wehenden, farbigen Bändern womöglich aus Verachtung gelacht - nein, das war einfach eine gekonnt hingelegte Szene. Und wenn ich das sage, ist mir bewusst, dass ich damit auch ein ziemlich negatives Urteil über die vielen, vielen anderen Szenen abgebe. Um mit Amphytrions Gattin Alkmene's Weltliteratur-Seufzer - allerdings aus einem anderen Stück, aber auch aus einer Inszenierung dieser Spielzeit am Theater Basel - zu schliessen: "Ach!"

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 19. Dezember 2003
"Amphitryon"

Nach Molière von Heinrich von Kleist
Regie: Barbara Frey
Mit Engler, Jung, Leittersdorf, Scharf, Telgenkämper, Wehlisch

Ach, ist das schwer

Wo Lustspiel drauf steht, ist nicht immer die reine Lust drin. Bei Kleists "Amphitryon" im Schauspielhaus wurde zwar oft gelacht, aber auch viel gegrübelt.

Titelheld Amphitryon (Leittersdorf), der Feldherr der Thebaner, muss bei seiner Rückkehr vom Krieg zur Kenntnis nehmen, dass seine Ehefrau Alkmene (Jung) in der Nacht davor einen Mann empfing, und zwar mit ganzem Wesen empfing, der sich für ihn ausgab und ihm in allem von Zehe bis Scheitel glich. Auch seinem Diener Sosias (Telgenkämper) erscheint ein Doppelgänger, der ihm sogar verbietet, weiterhin seinen Namen zu tragen. Die beiden bösen Männer sind Jupiter (Engler) und Merkur (Scharf), die sich diese Götterspässe auf Kosten der Sterblichen leisten. Von Jupiter wird Alkmene den Götterjungen Herkules gebären, dies als göttlicher Ablass quasi für das irdische Abenteuer der Ewigen, die die Sterblichen strapaziert und verstört.

Nun ist die Handlung dieses Drama, indem Kleist seine Figuren das Irrsinnige der Situation in auch witzigen Dialogen weidlich ausbreiten lässt, zwar leicht nachzuerzählen, aber nicht so leicht psychologisch und philosophisch nachzuvollziehen.

Vielleicht wollte Regisseurin Barbara Frey deshalb, dass Amphitryon, Jupiter und Sosias ihre Erörterungen derart in die Länge ziehen, um den inhaltlichen Bezügen genügend Zeit zu lassen. Oft wird dagesessen wie in einem psychologischen Trauerspiel. Sosias weint mehrmals über Schmach und Schmerzen, die ihm zugefügt werden. Das berühmte und vieldeutige „Ach“ von Alkmene am Schluss soll ohne Wenn und Aber Schmerzenslaut sein. Wir sollen also auch Mitleid haben mit den Figuren. Dann muss die Kurve zum Lustspiel wieder geschafft werden, und dazu wird gebrüllt oder die jeweilige Spiel-Situation bis zur Quasi-Groteske gesteigert; die Figuren „rasten aus“ wie in den TV-Soaps und kriegen rote Köpfe. Einige Pointen werden geradezu herausgedrückt.

Ausnahme: Katja Jung als Alkmene, die es als Einzige versteht, die Eigenheiten der Person mit räumlicher Tiefe und aber dennoch mit den raschen Befindlichkeits-Wechseln eines Lustspiels wiederzugeben.

20. Dezember 2003

Wertung **

**** Genuss
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"Zwei Sterne zu mager"

Die zwei Sterne von Claude Bühler erscheinen mir etwas arg mager; ich plädiere mit Gisela Traub für deren drei ... Das 'Verwirrspiel' ist bei mir gut angekommen!

Willi Rehmann-Rothenbach
Binningen

"Sie sind etwas gar streng, Herr Bühler!"

Och nee (würde meine Berliner Freundin sagen), da sind Sie mit nur zwei Punkten aber doch gar streng mit Regie und Ensemble umgegangen, lieber Claude Bühler! Einverstanden, dass es - vor allem am Anfang - gewisse Längen gibt (daran wird vermutlich schon noch gearbeitet) und - auch vor allem am Anfang - bei leisen Monologen noch an der Diktion gefeilt werden sollte. Aber diese völlig aberwitzige Geschichte, in der die in die Enge getriebenen, völlig verunsicherten Menschenkinder immer wieder mal die Hilfe der Götter anflehen, ohne zu ahnen, dass sich diese in menschlicher Gestalt in Griffweite befinden und sich sowas von fies aufführen, wie es nur wenige Menschen vermöchten - also, diese Geschichte mit ihrer Gratwanderung zwischen Tiefgründigkeit und oberflächlichem Gebaren ist meines Erachtens dank lustvoller Regie und ausgesprochen spielfreudigem Ensemble prima "rübergekommen". Die Rolle des Jupiter in der Haut des Amphitryon beispielsweise habe ich noch nie so schlüssig gestaltet gesehen.

Die kleinen, genannten Einschränkungen berücksichtigt, gebe ich - aber locker! - drei Sterne (mit Wachstumspotential).

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Hörsaal Bernoullianum
Premiere vom 19. November 2003
Uraufführung
"Wolfsjunge"
Stück für gehörlose und hörende SchauspielerInnen, Sängerin und Perkussionisten
Produktion: Luzerner Theater, Dakiwa und Theater Basel
Regie: Daniel Wahl
Mit: Abelein, Pavlica, Trifunovic, Zumbühl
Sopran: Jennifer Davison
Perkussion: Benjamin Brodbeck

Politisch korrektes Kopfturnen

Das muss zu denken geben: Das Theater Basel lud ein zu Premiere, ja zu einer Uraufführung und gerade mal 130 Zuschauer gingen hin. Davon machten Gehörlose allein ein gutes Fünftel aus, die wohl auch deshalb kamen, weil bei der Produktion ebenfalls Gehörlose mitwirkten.

Dabei ist das Thema populär. Der französische Film-Regisseur Francois Truffaut verfilmte 1969 die wahre Geschichte des etwa zwölfjährigen Jungen „Victor“, der 1799 aus der Wildnis der französischen Wälder kam, und den der humanistisch geprägte Professor Jean-Marc Itard zivilisieren wollte.

Weniger populär ist hingegen die Art, wie das Theater Basel mit solchen Stoffen umgeht. „Wolfsjunge“ macht da keine Ausnahme. Hier spielt keiner die Figur des Wolfsjungen oder des Professors. In weissen Hemden und dunkeln Hosen scheinen die sechs Schauspielenden Akademiker zu spielen, die einen Schauspieler-Labortest im Hörsaal zum Thema Lernen durchführen. Sie lesen aus den Aufzeichnungen jenes Professor Itard vor. Modell-Szenen führen vor: Jeder Lernprozess ist Zwang und Unterdrückung, scheitert, trifft nur auf Widerstand, ist nur peinlich.

Gehörlosen sollen Worte und Lieder beigebracht werden (Lernen ist Vergewaltigung). Die Spielenden verbiegen und zerstören mit sadistischer Lust Ordner (Lehrer verbiegen Schüler). Worte, Schreie und Gesänge werden in die Echo-Schlaufe gejagt (Alles nur Hall und Rauch). Gehörlose und hörende Spieler verstehen einander nicht (Übergriff lauert). Ordner werden zu einem fragilen Turm aufgeschichtet (Gestapelte Bildung, Einsturzgefahr). Das Publikum schaut als Studentenschar auf das Ensemble als Professoren herunter (Wir sind es selbst). Und schliesslich: am Schluss steigen die Spielenden „aus“ (Alles Gespielte nur gespielt).

Es scheint, dass diese 70-minütige Performance in Improvisationen entwickelt und dann konzeptionell festgezurrt wurde. Das hatte hier fatale Folgen. Aus dem Rauhen und Rohen wurde das politisch korrekte Manifest, aus dem Eindrücklichen das Nachvollziehbare. Das Konzept, den Bildungs-Ehrgeiz der Akademie blosszustellen, wurde vom akademischen Hierarchie-Ehrgeiz eingeholt, hier ein „Stück“ behaupten zu wollen, was dieses Gebilde noch keineswegs ist.

19. November 2003

Wertung **

**** Genuss
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Theater Basel, Grosse Bühne
Premiere vom 23. Oktober 2003
"King Lear"
Autor: William Shakespeare
Regie: Sebastian Nübling
Mit: Abelein, Bantzer, Fenz, Stadelmann u.a.

Spiel mit dem Entsetzen

Die königliche Familie verzog sich in den beflaggten Pavillon. Am Riesen-Bildschirm, in den Landes-News „live“, verteilte der alte König Lear sein Reich auf seine drei Töchter. Vor laufenden Kameras dann der Eclat: die Jüngste, Cordelia, verweigerte dem Alten den verlangten Liebes-Schmus, das Bekenntnis der totalen Liebe.

Daraufhin fällt der Pavillon, die Familie, das Reich und der Verstand des Alten auseinander. Cordelia wird verdammt. Die beiden bösen älteren Schwestern feiern eine wilde Dauer-Party und entreissen dem König Macht, Männer und Handlungsfreiheit. Edmund, ein unehelicher Sohn aus der höfischen Sphäre, robbt sich mit Intrigen und Sex in den inneren Machtbereich der Schwestern. Um den König schart sich ein kleines Grüppchen Randständiger: Sie irren auf der grauen, leeren Bühne durch das Land. Am Schluss gibt’s Mord und Totschlag; die Toten hängen in weissen Schalensitzen in einer Reihe am Bühnenrand; eine Art „nature morte“, die nicht nur sagt: Seht nur, was wir Menschen so machen, sondern vor allem, seht nur, welch „furchtbare“ Geschichte uns dieser Engländer da hinterlassen hat. Die Jüngeren im Publikum kichern und grinsen. Die Reiferen sagen in der Pause: “Also spielen tun sie gut“.

Regisseur Nübling hat mit Shakespeares Text einen leidlich unterhaltsamen, frech und effektbewusst inszenierten Bühnen-Abend mit „Kill-Bill“-Humor zu bieten - schrill, schwarz, böse: Ein Spiel mit dem Entsetzen. Das dunkle Mysterium des Stoffes interessiert ihn nur soweit, dass er alle Figuren mit der Wunde der Ungeliebten kümmerlich umherleiden und überdreht herumfeiern und -morden lässt. Was König Lear genau hat mit seinen cholerischen Ausbrüchen: Man weiss es nicht. Mehr als verletzte Eigenliebe und das Überholtwerden von der Zeit sieht man nicht. Lears Läuterung findet nicht statt. Dafür hält die Regie Sentimentalitäten bereit: Stockernst gemeint ist es, wie Edmund über den bösen toten Schwestern, die sich um ihn getötet haben, trieft, so sei er doch geliebt worden. Das ist Kitsch.

Die Antwort auf die Frage, warum mit Silvia Fenz eine Frau den König spielt, bleibt der Abend schuldig. Nach drei Stunden gab's für die Schauspielenden langen Applaus aus dem gut besuchten Auditorium. Bedauerlich: Über weite Strecken wird der Text unverständlich ausgesprochen und hingenuschelt.

24. Oktober 2003

Wertung **

**** Genuss
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 16. Oktober 2003
"Hedda Gabler"
Autor: Henrik Ibsen
Regie: Stephan Müller
Mit Bettini, Lotzmann, Miko, Stoyan, Telgenkämper, Winter, Wrage

Hedda Gablers Lachfratze

Der Basler Ex-„Neumarkt“-Regisseur Stephan Müller ist mit dem 110-jährigen Schauspiel als Gast ans Theater Basel zurückgekehrt; nach zwei Stunden applaudierte das Publikum wohlwollend und lange. Es hatte eine traurige Geschichte erlebt in einer präzise ausgearbeiteten Schauspiel-Aufführung mit einigen eindringlichen Höhepunkten.

Unheimlich und gleichzeitig lachhaft: Hedda Gabler (Wrage) hüpfte und trippelte in ihrer fahl beleuchteten Designer-Wohnlandschaft so richtig blöd und kindisch herum, wie man's nur unbeobachtet tut, so, als müsste man Pipi, aber nicht wegen Blasendruck, sondern wegen Mücken im Gemüt. Ihr ist immer langweilig. Wenig später würde sie sich totschiessen. Aus Leere hatte sich die Generalstochter vom unkünstlerischen Kunsthistoriker Tesman (Telgenkämper), der seine Sinnlichkeit in Pantoffeln gut aufgehoben sieht, heiraten lassen. Als ihr früherer Freund Eilert Lövborg (Miko) wieder auftauchte, manövrierte sie diesen Konkurrenten ihres Mannes in den Selbstmord.

Susanne-Marie Wrage züngelt als Hedda wie eine Schlange. Diese Frau hört niemals zu, die lauscht lauernd alle ab, gierig nach Erregungsgewinn. Trotzig wie eine Göre und ungehalten wie eine Diva schmeisst sie Blumen um sich. Ein Backfisch ist sie, wenn sie sich an ihren Herrn Gemahl wirft. Den Bonvivant von Assessor Brack (Bettini) aber lässt sie auflaufen wie die an sich unmoralische, aber eben reife Persönlichkeit. Unheimlich ist ihre Lachfratze: Null-Beteiligung, Hass und verzweifelter Charme.

Was fehlt bei dieser Hedda, ist das Erschrecken der Figur über sich selbst – das beschränkt sich nicht nur auf Wrages Rolle. Viele Bewegungen und Regungen füllen zwar das Spiel, vertiefen es aber nicht, sondern verflachen die Spannung. Dennoch: Es ist über Strecken eine Wohltat, hier dem Schauspiel folgen zu können.

Schönes Detail: Die Kostüme (Münch) sind auffällig geschmackvoll. Deren Brauntöne widerspiegeln die Spielzeit (September). Zum Beige der Wohn-Wände und des Ledersofas, dem Blau und Grau der Video-Einspielungen und dem Blätter-Teppich ist der Gesamt-Anblick ein seltener Augenschmaus auf dieser Bühne (Müller/Nives Widauer). Müller hat versucht, die Geschichte ohne nähere Zeitbindung aktuell darzustellen.

Unnötig sind die Spielchen und Spielereien an der Gag-Grenze.

17. Oktober 2003

Wertung ***

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"Wir waren in derselben Vorstellung!"

Die Kritik trifft weitgehend den Punkt: Die Regie hat das (grossartige) Schauspielteam behutsam begleitet und dem Publikum einen wundervoll differenzierten Abend beschert. Natürlich mag ich nicht jedes Wort oder jede Wendung von Herrn Bühler unterschreiben - ich will nur sagen: in der Tendenz bin ich einverstanden - mit einer Ausnahme: Hedda Gabler kann nicht über sich selbst erschrecken. Ich glaube, sie kann nicht mal über all das, was sie anrichtet, erschrecken. Ihre Schönheit, ihre gutbürgerliche Herkunft, ihre Eleganz - das alles wird seit langem kolportiert ("Dass er ausgerechnet sie, die Hedda, zur Frau bekommen hat - wo doch soviele um sie geworben haben..."). Sie sieht sich wohl nur noch in diesem Spiegel, der nicht die wirkliche Hedda, sondern die Hedda, die man genau so sehen will, zeigt. Und so verhält sie sich also. Das muss ja zur kleinen (mit dem Archiv-süchtigen Ehemann) als auch zur grossen (mit dem im wesentlichen sich selbst bespiegelnden Ex-Lover, der fast dankbar die von ihr angebotene Pistole ergreift) Katastrophe führen. Ihre eigene Verabschiedung aus dem Leben ist dann irgendwie folgerichtig: "Kann mich denn niemand mehr brauchen?" - und sie selbst hat auch niemand mehr, den sie brauchen (oder missbrauchen) kann. Ende der Hedda, Ende des Stücks, das - wie Herr Bühler richtig erwähnt - stark applaudiert wurde. Lohnt sich!

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 24. September 2003
"Faust II"
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Matthias Günther
Mit Horn, LeMoign, Müller, Reisinger, Scharf
Musik: Stimmhorn und Kold electronics

Wer versteht diesen Faust?

Zweieinhalb Stunden, so lange dauert das Riesen-Werk in der Regie Matthias Günther und der Dramaturgie von Lukas Bärfuss. Das ist etwa ein Zehntel der Voll-Variante.

Das Experiment wäre interessant: Was würde eine Person erzählen, die ohne jede Vorbildung gestern abend im Zuschauerraum gesessen hätte. Vielleicht, dass der Held hysterisch herumschrie und unglücklich dreinschaute. Und dass drei Leute mit seltsamen Horn-Instrumenten und elektronischen Apparaten traurige Töne machten. Oder dass, wenn Faust von einem Wasserfall sprach, er mit Wasser übergossen wurde. Oder dass seine geistigen Welten lediglich Pillen-Trips waren. Überhaupt: Faust wurde geschlagen, ausgelacht, zu Boden gestossen, mit Pillen abgefüllt und der Verachtung preisgegeben.

Weiter: Könnte diese Person ohne Vorbildung feststellen, dass sich dies alles am Meer, beim Kaiser, in seinem Studierzimmer abspielt? Die Bühne bleibt karg und grau. Andeutungen müssen genügen. Können die Personen immer klar zugeordnet werden? Ausser Faust und Mephisto wechseln alle die Rolle – auch in laufenden Szenen. Kann man den Sinn des Textes immer verstehen? Er wird schnell gesprochen, auch genuschelt, vernuschelt. Fast immer ist er von Tendenz und Zwischenhandlungen überlagert. Die Gefühlswelt bedient sich der „Cool“-Variante: Resignation als Traurigkeit, Hysterie als Wut, Ironie als Schalk, Infantilität als Naivität. Ausnahme: Chantal LeMoign als „Helena“.

Faust II ist an sich ein vergeistigtes und komplexes Bühnenwerk. Goethe stellt die Welt als ein durchschaubares Gleichnis-Werk dar. Der Gelehrte Faust reist quer durch Welt und Zeit, betreibt mit Hilfe von Teufel Mephisto Zauberei und trifft Helena in der Antike. Engel heben seine Seele in den Himmel, weil sie sich nach Erlösung sehnte.

Aber Engel, Hölle und Himmel kommen in dieser Aufführung nicht vor; sie bildet keine geistige Welt ab, sondern nur Sinnestäuschungen oder Vorstellungen. Mephisto schreit nach Fausts Tod am Schluss, dass ja eben leider doch nicht ganz gar nichts sei, weil eben doch etwas da gewesen sei.

Ob Verachtung die Hauptfigur und das, was sie mitzuteilen hätte, interessanter macht? Der Erniedrigung frönte auch schon Faust I vor zwei Wochen. Wer darüber lachen kann, Glück gehabt, und wer nicht, der bleibt halt draussen. Das Publikum applaudierte lang und heftig.

25. September 2003

Wertung **

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"Ein Sinn entstellendes Fragment"

Die Kritik von Herrn Bühler ist für meinen Geschmack ein wenig zu positiv ausgefallen. Das, was an der Premiere gezeigt wurde, war nichts weiter als ein Sinn entstellendes Fragment, das allenfalls den Titel mit Goethes Drama gemein hat. Es war ein Zumutung. Nach Faust I war ich auf Vieles gefaßt, aber die gestrige Vorstellung übertraf meine Erwartungen bei weitem. Zu einem differenzierten Kommentar möchte ich mich nicht hinreissen lassen, denn dies bedeutete, diesem Machwerk noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die es nicht verdient.

Lars Stangenberg
Freiburg i. Br.

"Die Vermittlung ist neu, aber nicht falsch"

Lieber Herr Bühler, ich freu' mich ja schon, dass Sie diesmal zumindest den langen und heftigen Applaus des Publikums erwähnen. Die Wertung der schauspielerischen Leistungen habe ich ja wohl überlesen - oder haben Sie die wieder "vergessen"? Vermutlich haben Sie recht - wenn jemand die Goethe-Fassung nicht kannte, war der rote Faden ein wenig schwieriger zu finden. Aber ich bestreite, dass der Abend deshalb nicht doch auch für diese "nicht vorbelasteten" Besucher/innen reich war. Und das ewige Suchen des Faust, seine Reise, Himmel und Hölle, die Geister, der kaiserliche Hof und sogar die Rettung seiner Seele durch Engel - alles ist deutlich und beklemmend erlebbar (wenn man es sehen will und nicht in Abwehr erstarrt). Es ist die Inszenierung eines jungen Teams, das andere Vermittlungswege beschritten hat. Diese Wege sind vielleicht ungewohnt, aber nicht falsch; sie sind neu, aber nicht verfälschend.

Ein echtes Problem habe ich mit Ihrer Abqualifizierung der Musiker, die hier ja eine ganz zentrale Rolle spielen. Das Stimmhorn (Balthasar Streiff und Christian Zehnder) und electronics.kold sind nun wirklich grossartig. Sie schaffen es, mit Tönen, Melodien, Rhythmen und Stimmlauten eine ganze Welt auf dieser Bühne zu erschaffen - diese wunderbaren Musiker ersetzen nicht nur jedes Bühnenbild; sie kommentieren, unterstreichen, setzen Fragezeichen, ergreifen Partei und lösen sehnsüchtige Gedanken aus. Es tut mir wirklich leid, Herr Bühler, dass Ihnen so unheimlich viel Schönes, Spannendes und Schreckliches entgangen ist.

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 19. September 2003
"Geld und Geist"
Volksstück nach dem Roman von Jeremias Gotthelf
Fassung: Rafael Sanchez und Andrea Schwieter
Regie: Rafael Sanchez
Mit Johanna Bantzer, Andrea Bettini, Urs Bihler, Margot Gödrös, Charlotte
Heinimann, Jürg Kienberger u. a.

Bärntütsch im Schauspielhaus

Regisseur Rafael Sanchez hat den Versuchungen widerstanden. Obwohl ihm die Dramaturgie den Marthaler-Schauspieler Jürg Kienberger als den tragenden Erzähler (und Pfarrer) eingesetzt hat, ist es kein Marthaler-Ableger geworden. Ausgerechnet „Geld und Geist“, das hätte sich bestens angeboten, um zu denunzieren, dass Bauern hierzulande die Erotik für das Notwendige vor dem Kalben ansehen, und wie die Liebe hier durch Gut und Boden geht. Oder aber Sanchez hätte ein Bauerntheater inszenieren können; in der Schnyder-Verfilmung von 1964 regierten Figuren-Monstren, denen man bei jeder Wendung einen existentiellen Entscheid zumutet und deren urgewaltige Poesie notwendiges Eigen-Manifest wird. Max Hauflers Dorngrütbauer liess einen beängstigend fühlen, wie es ist, wenn einem Angst und Enge in Materialismus und hasserfülltes Böse-Tun zwingt.

Rächt ordeli bärntütsch isch hie o gredt worde z’Basu, aber Sanchez hat einen anderen Weg gewählt. Er erzählt die Geschichte der Bauernfamilie vom Liebiwyl-Hof trocken, tragisch und ironisch wie es Gotthelf meinte, aber ohne Innigkeit. Hier gibt es keinen Gretler-Ton und Hodler-Klang, die dem schweren Leben eine hohe Zuversicht unterlegen. Hier lugt niemand von Berg und Tal sondern hier zankt sich und fuerwärchet eine familiäre Gemeinschaft wie im gallischen Dorf unter einer riesigen Buche, unter der Familientisch, Tanzboden und Kirchenschiff in einem liegen. Dort beginnt der grosse Streit um verspekulierte 5'000 Pfund, die die Familie beinahe moralisch ruiniert, und dort wird beinahe die Anne Mareili vom Dorngrüthof in einem Kuh- und Hof-Handel an den ältesten Sohn Resli verheiratet.

Sanchez will auflockern mit Parallelhandlungen, mit Running Gags, mit Kienbergers lustigen Erzähler-Solos: um zu zeigen, dass der Sohn Christeli sensibel und kränklich sei, muss er dauernd niessen. Um zu zeigen, dass der Källerjoggi etwas gar Grüseliges sei, choderet er.

Manchmal sieht es aus wie Bauerntheater. Das aber lebt von der Begrenztheit der Scholle. Diese wollte Sanchez jedoch nicht, sondern eher zeigen, wie zeitlos modern diese Bauern in Habitus und Denkbewegungen sind. Das verträgt sich nicht. Oft sind Aussagen zu den Personen schlicht Text, Behauptungen, mehr nicht. Nach der Pause sinkt die Spannung der zweieinhalb stündigen Aufführung.

20. September 2003

Wertung **

**** Genuss
*** Kurve gekriegt
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"Vier Sterne, Herr Bühler!"

Also wirklich, lieber Herr Bühler: Wir waren schon wieder zur selben Zeit am selben Ort, haben aber erneut ganz unterschiedliche Inszenierungen, Schauspieler-Leistungen (die Sie in Ihrer Kritik einfach unterschlagen), Personen-Konstellationen und daher eben wohl auch einen ganz anderen "Geist" gesehen. Zwei Sterne geben Sie (= unbefriedigend) - also wirklich! Inszenierung, Textbearbeitung, ein kluges, stimmiges Bühnenbild und fabelhafte Schauspieler/innen tragen die Handlung, ohne dass ich bei mir oder anderen Zuschauern nach der Pause irgendwelche Ermüdungserscheinungen oder nachlassende Spannung festgestellt hätte. Sie unterschlagen den OnlineReports-Lesern auch den begeisterten, langen Applaus, die vielen Bravo-Rufe für Darsteller und Leitungsteam... Dieses Stück verdient jede Menge Besucher, und ich möchte wirklich dazu ermuntern, "Geld und Geist" zu erleben. Herr Bühler, wie offen und vielleicht auch noch ein bisschen gespannt sind Sie eigentlich, wenn Sie als Kritiker ins Theater gehen? VIER STERNE!!!

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Elisabethenkirche
Premiere vom 12. September 2003
"Faust I"
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Lars-Ole Walburg
Mit Bode, Brömmelmeier, Erdmann, Hüller, Jung, Schröder u.a.

„Wäh“ statt „Ach“

Mit der Geschichte um den Gelehrten, der den Teufels-Pakt abschliesst und dann die viel, viel jüngere Margarethe missbraucht, eröffnete das Theater Basel am Freitagabend die Schauspiel-Saison in der vollen Elisabethenkirche.

Es mochten nicht alle Premieren-Zuschauer hinsehen: Klaus Brömmelmeier als Faust roch auf dem Altar am Anus des Satan (Georg-Martin Bode) und liess sich über die Herrlichkeit ebendieses A…lochs aus, um gleich mit Jauche übergossen zu werden. Solchermassen verschmiert „entjungferte“ er ebendort hintereinander sechs Mädchen in Tennis-Kostümchen. Es war nicht das einzige Mal an diesem Abend, dass Theaterblut floss. Diesmal klebte es an den Höschen, beim ersten Mal rann es Faust und Mephisto nach der Pakt-Unterzeichnung durch einen Kuss aus dem Mund. Nein, an Schocks (und Gags) fehlt es dieser Faust-Aufführung auf der kreuzförmigen Laufsteg-Bühne wahrlich nicht. Das arme, von Faust geschwängerte Gretchen schrie und kreischte während der ganzen Dom-Szene und davor und danach machten schrille Ton- und düstere Licht-Effekte Geisterbahn. An neuralgischen Punkten dröhnen die Fascho-Romantik-Rocker „Rammstein“ ab Band ihren Übergriffs-Hymnus „Ich will“ ins Publikum.

Es sind heftige Bühnen-Mittel, die Walburg in seiner ersten Inszernierung als Schauspieldirektor will, um zu demonstrieren, dass, wo ein ungehemmter Wille ist, auch die totale Zerstörung durch Macht, Sex und Geld lauert.

Die inszenatorische Aufmachung in den grossen dramaturgischen Linien ist indes präziser ausgestaltet als die Empfindung mit ihren vielfältigen Details. Ihr scheint man weniger Wirksamkeit zuzutrauen. Vor dem Selbstmord halten Faust nicht Gefühle ab sondern ein gerufenes „Stopp“ der Engel. Als Gefühls-Stopper scheint bei allen Bemühungen um Natürlichkeit der 200-jährige Text zu wirken: die Schauspielenden würden es oft anders sagen wollen. Die Inszenierung sucht dann, was als heutig gelten mag, eher im Profanen, als zu fragen, weshalb Goethe den Text genau so formulierte.

Getragen wird der Drei-Stunden-Abend von Sandra Hüller (Gretchen), Katja Jung (Marthe) und den beiden Fausts/Mephistos Jörg Schröder und Klaus Brömmelmeier, die ihre Rollen immer wieder mit Plastizität zu füllen vermögen.

13. September 2003

Wertung ***

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*** Kurve gekriegt
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"Ein unglaublich spannender Abend"

Beim Lesen der OnlineReports-Kritik schien mir, ich sei in einer andern Vorstellung gewesen, obschon ich auch in der Premiere sass. Nicht, dass ich alle Regie-Einfälle als erhellend bezeichnen würde - aber ich habe einen unglaublich spannenden Abend erlebt, der mir eine neue Sicht auf die altbekannte Geschichte und viele Gedanken, die ich sonst wohl nicht gedacht hätte, beschert hat. Die Frage ist halt wohl im wesentlichen, ob man (gilt auch generell und nicht nur fürs Theater) bereit ist, sich auf etwas einzulassen, sich zu öffnen für ungewohnte Sichtweisen. Ich mach das ausgesprochen gern und möchte das dadurch erlebte Mehr an Denken und Leben keinesfalls missen.

Gisela Traub
Basel



Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 16. Mai 2003
"Anna und Ella - Eine Reise nach Kabul"
Autoren: Matthias Günther und Andreas Tobler
Regie: Matthias Günther
Anne: Johanna Bantzer
Ella: Iris Erdmann

Stilles Road-Movie auf der Bühne

50 Jahre danach erinnert sich Ella Maillart an ihre Reise, die sie mit der Zürcher Millionärs-Tochter und Autorin Annemarie Schwarzenbach 1939 nach Kabul unternahm. Ein von Annemaries Vater gestifteter Ford Roadster Deluxe mit 18 Pferdestärken ist das Vehikel, das die Frauen 8'000 Kilometer ostwärts nach Afghanistan bringen soll, zu einer Zeit, wo noch keine Rega-Rückführungen möglich waren. Die Reise endet tragisch. Nach einem zweiten Drogen-Gebrauch von Schwarzenbach lässt Maillart sie in Kabul zurück und reist allein weiter. Die beiden Frauen, die zumindest eine platonische Liebe verband, begegneten einander nie wieder.

Iris Erdmann spielt, in Jupe und Wolljäckchen, auf einem menschenhohen Quader-Gebäude sitzend, die etwa achtzigjährige Ella, die ihre Kabul-Geschichte nochmals aufkommen lässt. Man scheint ihr in den Kopf zu sehen, wenn sich in diesem Quader der Schatten-Abriss einer jungen, knabenhaften Frau (Johanna Bantzer) im Anzug abzeichnet, die sich mit viel Allüre eine Zigarette anzündet, und auf einmal die Bühne betritt. Selten war dieses Jahr so viel Sentiment und wortlose, aber viel sagende Atmosphäre auf den Basler Bühnen mitzuerleben. Das Spiel zwischen den damaligen Geliebten beginnt.

Wir dürfen 75 Minuten lang mitreisen, auf den Video-Beams und naturgemäss in den Dialogen, die vom sperrigen Beziehungsgeflecht dieser ungleichen Frauen mehr berichten als mitfühlen lassen. Stationen ziehen vorbei: Der erste Pass, die Panne in der Wüste, die Meldung des Kriegsausbruchs, Annemaries erstes Drogen-High und der darauffolgende von Ella erzwungene „Pakt“ zu Annemaries totaler Abstinenz, den diese nicht wird halten können.

Die Eindrücke mit den eigenen Bilder des Zuschauers verdichten sich zu einem unterhaltsamen Bühnen-Road-Movie.

Der Text verbindet Dialogform, Reisebericht und Randnotiz. Das macht den Abend etwas gar beschaulich, brav und spröde. Den real wohl auf existentieller Frequenz ausgetragenen Streitigkeiten fehlt Fleisch, Blut und das Eisen auf der Zunge. Bringt die Erinnerung ungelöste Momente nicht eben gerade mit unvermittelter Härte zurück?

Die beiden Darstellerinnen wurden bei ihren fühlbaren Bemühungen um unverbrauchte Wort-Klänge von der Regie wenig angeleitet. Jedoch: Über das ehrlich gemeinte Spiel darf man sich freuen.

17. Mai 2003

Wertung ***

**** Genuss
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Theater Basel, Foyer
Premiere vom 8. Mai 2003
"99 Grad"
Autor: Albert Ostermaier
Regie: Florian Fiedler
Mit Borel, Crowley, Hüller, Lettersdorf, Reymann, Stadelmann, Wehlisch, Wichmann

Das kann keiner mehr nacherzählen

Der Applaus des grösstenteils jugendlichen Publikums war freundlich und massvoll nach dieser Schweizer Erstaufführung von „99 Grad“ – oder besser: nach dem, was Regie und Dramaturgie aus dem Stück des Münchner Autors Albert Ostermaier gemacht haben. Zum einen wurde der überlange Krimi mit seinen umständlichen Befindlichkeits-Monologen als „Start-Up-Night“ gelabelt auf geduldsverträglichere 75 Minuten heruntergestrichen. Zum anderen sind die Macher mit der Geschichte um zwei junge Kerle, die mit einer Art Treue-Viagra Milliardärsträume realisieren wollen, etwa so umgegangen wie Picasso mit einer Geige während seiner kubistischen Phase: Das kann keiner mehr nacherzählen, der diesen Pillen-Thriller nicht gelesen hat.

Statt der langen Monologe wurden Pop-Liedchen um Liebe und Treue wie „Stand by me“ und so weiter intoniert. Dazwischen hörten wir viele Dialoge und durften ausgiebig zur Kenntnis nehmen, wie Beziehungen heute „funktionieren“ respektive eben nicht, und wie Endzwanziger so unbeholfen wie 18-Jährige über Triebe und Treue sprechen. Dazu passten jene kurzen Szenen, die einer RTL-Nachmittags-Enthüllungsshow entliehen zu sein schienen. Über dem ganzen Abend schien die Frage zu hängen: Gibt es ein Leben nach der Pubertät?

Da musste logischerweise das Publikum den Schauspieler-Aktionen im Schneidersitz auf Sitzkissen und rotem Spann-Teppich folgen, der den ganzen Boden überzieht, auf dem gesessen und gespielt wird, so dass wir quasi alle im gleichen Wohnzimmer sitzen. Eine wattige Scheinwelt schien den Machern vorgeschwebt zu haben, wo selbst Spass und Unlust nicht mehr unterschieden werden können: Eine kuschelig-haarige Illusions-Wohlfühlwelt zum Kotzen, in der alle stecken, und wo es kein Aussen gibt.

Schon ab der Mitte gehen dem neuen Schauspieldirektor Lars Ole-Walburg als Dramaturg (Jahrgang 1965) und Jung-Regisseur Florian Fiedler (1977) allerdings das Pulver aus. Den Witz hat man begriffen. Die Figuren und die Geschichte sind zu abstrahiert, als dass man weiter folgen möchte. Der Eindruck entsteht, dass nun alles Denkbare passieren könnte. Langeweile und auch Ratlosigkeit machen sich breit.

9. Mai 2003

Wertung **

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"Wertung *"

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Lasst mal jemand anderen dran, ich bin es mir leid, über jedes Stück Schlechtes zu lesen. Ich frage mich, was seine Motivation/Legitimation ist.

Jacques Reiner
Basel



Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 25. April 2003
"Odyssee 2003"
Autor: junges theater basel (in Produktion mit dem Theater Basel)
Regie: Rafael Sanchez

Bohlen bleibt schriller als seine Parodie

Das Leben ist nichts weiter als eine gehetzte TV-Spiel-Show. Wir alle sind kleine Odysseuse in einem Hindernislauf-Spektakel für die Götter. Diese sind das unsichtbare, lachende Publikum. Die Hohepriester sind schmierige Moderatoren, deren fiese Spielregeln wir eifrig befolgen. Nur der Sieg zählt.

Kandidatin Katja aus Birsfelden weiss, in der „Emotionen-Runde“ der Show, intuitiv welche Emotion den Hund von Odysseus ergriff, als dieser sein Herrchen nach über 20 Jahren sah, und tot umfiel. Der besonders beflissene Odysseus-Kenner Christoph aus Lörrach will auch als Millionär – später dann mal – immer noch „so sympathisch wie heute bleiben“.

Zum eigenen 25-Jahre-Jubiläum präsentiert uns das Basler Jugendtheater mit „Odyssee 2003“ eine schrille Revival-Seventies-Show, in der auf alles angespielt wird, ob „Millionärs-Show“ von heute oder „Teleboy“ von damals, ob „Superstar“ oder „Spiele ohne Grenzen“. Den Moderator-Gott mimt Jung-Regisseur Rafael Sanchez als Austin Powers-Type. Allerdings: An die reale Schrillheit eines Bohlen kann die „Odyssee 2003“ kaum je anschliessen.

Die „Odyssee 2003“ führt uns auch zurück in die Anfangszeit des Jugendtheaters: Wir setzen uns nieder im Auditorium der kleinen Bühne, um bald im Tram die durch die Stadt hetzenden Spielshow-Kandidaten über die Mittlere Brücke zu verfolgen und in der Kulturwerkstatt Kaserne, der anderen, frühen Spielstätte des Jugendtheaters, zu landen. Dort verschwindet der Moderator. Allein gelassen im elektronisch überwachten Raum eifern die Kandidaten, den Odysseus aus der jeweils „eigenen persönlichen“ Perspektive vorzuspielen - vielleicht eine Reminiszenz an die Spielweise früherer Produktionen. Das hält nicht immer durch.

Am Schluss aber spielt der kommende Theater-Basel-Regisseur Sanchez einen umwerfenden Theater-Joker aus: Die jungen Odyssee-2003-Teilnehmer verschwinden in einem Regenvorhang, um daraus als Siebzigjährige, gespielt von Seniorinnen und Senioren, wiederzukehren. Wie auf diese Weise Theater und Erinnerung die Zeit „rund“ machen – dieser Moment war eindringlich an diesem spassigen Jugend-Theater-Abend.

26. April 2003

Wertung ***

**** Genuss
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 3. April 2003
"Szenen einer Ehe"
Autor: Ingmar Bergman
Regie: Tom Kühnel

Nicht einmal eine rechte Ohrfeige

Wie schafft man es, eine der schärfsten Kritiken an der Ehe des intellektuellen Bürgerlichen zu einem flauen Unterhaltungsabend zu machen? Wie schafft man es, intime Begegnungen über zweieinhalb Stunden ohne auch nur einen einzigen „nackten“ Stimmklang darstellen zu wollen? Das Theater Basel macht's - in der letzten Aufführung unter Stefan Bachmanns Ägide.

Erstes Mittel: Marianne und Johan werden von je drei Personen und einem Puppen-Paar dargestellt. Die Mariannes und Johans im Publikum müssen sich also nicht betroffen fühlen: man kann sich die bequemste Variation aussuchen. Hier soll der Modellfall dargestellt werden, wie wir im Prinzip sind. Das gelingt: alles bleibt in der Tat auf akademischer Distanz. Zweites Mittel: quer zu Bergmanns spröden Dialog-Szenen werden viel Musik-Einspielungen und Szenen aus der „Meta-Theaterkiste“ wie „traumartige Momente“ verwendet. Solche Stimmungen sind nett und zerstören die Attacke der Direktheit, das Existentielle des Konflikts. Drittes Mittel: das Schauspiel-Ensemble beschränkt sich auf das enge Repertoire altbekannter Schauspielertöne und Konfektionswutausbrüche (Ausnahmen: Jung und Telgenkämper). Das ist nervtötend langweilig.

Die Idee scheint einmal mehr auf dieser Bühne aufgekündigt worden zu sein, dass sich das Sein eines Menschen in seiner Artikulation niederschlägt, und dass Artikulation etwas mit Lebensführung zu tun hat. Und dass das Theater die Aufgabe übernehmen könnte, dies aufzuweisen.

Es ist unglaublich: Nie darf in dieser Inszenierung des Ehedramas Blösse eintreten, Ernst regieren. Selbst dann nicht, wo Johan der Marianne aus heiterem Himmel mitteilt, dass er gleich mit einer anderen Frau weggehen wird. Die Prügelszene über den Scheidungspapieren wird als Massenbalgerei aufgemacht. Nicht mal eine ordentlich laute Ohrfeige setzt es dabei ab.

In der Basler Inszenierung passen Marianne und Johan in die verschiebbaren Mobitare-Katalog-Wohnecken, die nach und nach die Bühne füllen. Bergmans Personal ist viel interessanter, widerspenstiger, elender und dadurch „grösser“.

Das Publikum – viele Pärchen - hat artig gelacht und am Schluss sogar getrampelt.

4. April 2003

Wertung **

**** Genuss
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"Theater darf auch Spass machen"

Man sollte frustrierte, ehemalige Schauspieler nicht einladen, Kritiken zu schreiben. Ob's der Herr Bühler glaubt oder nicht: Theater darf auch Spass machen ("Seidener Schuh" etc.). Es wäre an der Zeit den Kritiker zu wechseln.

Jacques Reiner
Basel



Theater Basel, Foyer Grosse Bühne
Premiere vom 28. März 2003
"Der Seidene Schuh"
Autor: Paul Claudel
Regie: Stefan Bachmann

Das Warten auf die zwingende Mitempfindung

Mit einem achtstündigen Abend verabschiedet sich Theaterdirektor Stefan Bachmann vom Theater Basel und – wenigstens für eine gewisse Zeit, so sagt er selbst – vom Theater überhaupt. Deshalb ist diesmal die Kritik, ausnahmsweise, auch vier Mal so lang wie üblich.

Acht Stunden Theater! Und das mit diesem anspruchsvollen Text von Paul Claudel! Wer hält das aus? Antwort: jede und jeder – und zwar nicht wegen der drei Pausen. Die dürften wohl eher für die Schauspielerinnen und Schauspieler (und Bühnenumbauten) angesetzt worden sein, denn etwa ein Sebastian Blomberg steht als Don Camillo oder Ansager praktisch pausenlos auf der Bühne, eine Parforce-Leistung, und bei ihm auf hohem Niveau.

Nein, der Abend ist leicht, ein manchmal sogar spannungsarmer Erlebnis-Abend, am leichtesten sogar bei den anspruchsvollen Dialogpassagen, wo der Geist Claudels permanente Anregung und Inspiration versprüht. Am Mittwoch, dem Probe-Abend vor Publikum, und auch in der Vorpremiere am Freitag herrschte gerade bei den längeren Dialogen, die nicht von Gimmicks und Gags unterbrochen wurden, entspannte Ruhe und Konzentration in den Zuschauer-Rängen des eigens ins Foyer eingebauten Theaters.

In Claudels Hauptwerk, das Ende 16. Jahrhundert spielt, geht es um nichts weniger, als dass die grosse irdische, unerfüllte Passion des christlichen Liebespaares, Dona Proeza und Rodrigo, als religiöses Problem begriffen wird: die Pflicht, ein rechtes Leben zu führen, und sich mit der Unerfülltheit gläubig und mit Freude Gott zu geben. Es ist ein breit angelegtes Welt-Theater, das sich über ganze Menschenleben und den ganzen Erdball hinzieht. Claudels Sprache ist von lyrischer Vergeistigung und fleischiger Sinnlichkeit und gehört zu den energievollsten, modernen Dichtungen. Auch Bachmann sagt, dass man die Handlung unmöglich in zwei Sätzen erzählen kann.

Warum wirken diese acht Stunden so leicht im Theater Basel? Ein Versuch: Bachmanns Angst des Lebens scheint die vor Langeweile zu sein. Der Athmosphäriker Bachmann begegnet ihr, indem er im Gesamtgerüst szenengemäss schroffe Abtrennungen vornimmt und alle abgetrennten Teile jeweils in eine klar ausgeschnittene, beinahe autonome Szenen-Form verpackt und athmosphärisch dicht mit Musik, Licht und Spielweise verbackt. Der Unterhalter-Erzähler Bachmann begegnet der Langeweile, indem er seine Unruhe auf das Ensemble überträgt, komische und schrille Einfälle und Zwischenhandlungen einbaut, wenn es ihm zu sehr Text und zuwenig Theater ist, und natürlich, indem er sich sagt, dass er unter dem letzten aller Striche nur eines müsse: unterhalten-erzählen.

Hier gehört dazu, dass er bei allzu grossem Zwang zur Tiefe in das Pubertäre abhaut, damit sich die Inspiration nicht in Blöcke verdichtet und sich verkeilen kann. Innerlich scheint er dies somit zu rechtfertigen: hinter diesem Unterhalter-Erzähler und Athmosphäriker befindet sich nämlich der analytisch begabte Gefühlsmensch, ein Gefühlsbildermensch, der gefühlsmässige Begebenheiten präzise mit fotographischem Gedächtnis zu archivieren und bei Bedarf hervorzuholen und einzubauen scheint.

Dies ist ein Versuch, aber er hilft vielleicht zu verstehen, wie Bachmann sehr leicht lesbare Szenen mit klarem Zuschnitt zu schaffen und die Motivationen seiner Figuren „spielen“ zu lassen vermag. Die Vergeblichkeit, wenn Don Camillo seiner angetrauten Dona Proeza Liebe entlocken will, indem er sich ihr aufdrängen und sie bezwingen will, zeigt sich an einem misslingenden Geschlechtsakt beim Morgenessen. Wenn Bachmann zeigen will, dass Maria Stuart zur politischen Marionette des spanischen Königs wird, lässt er sie auch als Marionette der Granden auftreten.

Durch den Abend, der uns um den ganzen Erdball führt, moderieren zwei lilahaarige Ansager in Space-Look-Stewardessen-Anzügen. Dieser Space-Look ist wohl so gemeint, dass sich die Aufführung zeitenüberspringend, ohne ästethische Zeitbindung abspielen soll. Rodrigo, der an der Trennung zu seiner Lebensliebe Dona Proeza zerbricht, und sich für die spanische Krone als Vize-König nach Südamerika schicken lässt, ist bei Bachmann so etwas wie eine jung-faunenhafte Ausgabe des „Apocalypse-Now“-Colonel-Kurtz mit Indio-Federmaske, der vom unstillbaren Trieb in den Wahnsinn gedrängt wird, und so etwas wie ein kleines Terror-Regime im fiebrigen Urwald am Rande der Zivilisation einrichtet. Oder wenn Dona Proeza ihren Leib verlässt während eines Gesprächs mit ihrem Schutzengel, dann lässt Bachmann die Schauspielerin Maria Schrader an den Beinen kopfüber von der obersten Etage des dreistöckigen, meterhohen Bühnen-Aufbaus herunterhängen. Dies als Bild für den Schwebezustand zwischen leiblichem und seelisch-geistigem Sein, wobei hier wahrscheinlich auch an die umgekehrte Kreuzigung von Petrus gedacht wurde, denn Dona Proeza hatte zuvor einen frevelhaften Gedanken geäussert. Und der in reiner Liebe glühende Don Rodrigo wird vom Zyniker Don Camillo in die Wunde gefasst wie es der ungläubige Thomas bei Jesus Christus in Caravaggios berühmten Gemälde tut.

So weit Bachmann. Aber! Die existentielle Tiefen-Dimension des Textes wird kaum je empfunden. Claudels Welt erleidet schwere Profanisierungen. Das geschieht darum, weil sich Claudels Text auf einen Kultur-Kodex von Erziehung, Umgang, Kultur, Schulung versteht, und der wird von Kitsch, Trash, Comic und allerlei überflüssigen Handlungen ausser Kraft gesetzt. Die Inszenierung müsste nun sichtbar machen, wie sich diese Zivilisierung in den Kämpfen des Lebens verankert hält oder eben nicht. Um das geht es bei Claudel existentiell, denn die Zivilisierung, die die freie Wahl zwischen Ordnung („Lust der Vernunft“) und Unordnung („Wonne der Fantasie“) ermöglichen soll, ist bei Claudel der Glaube, den er mit diesem Stück diskutieren will.

Zu dieser Diskussion ist der Abend zu versperrt und auch zu trendy. Die Verwahrlosung eines Don Camillo oder auch eines Don Rodrigo wird von Bachmann zwar überdeutlich gezeigt, aber wir sehen nicht, wie sie dazu stehen, welche Fassade wer wie vorschiebt. Interessant wäre auch zu erfahren, wie Don Rodrigo seine unermessliche Wut auf der Schifffahrt bei sich behält. Im Foyer des Theater Basel besäuft er sich. Warum ist der Richter Don Pelayo, der nach eigener Aussage zu Verurteilende gerne in den Tod schickt, so ein gemütlicher Onkel? Das wird gegeben, als gäbe es dahinter kein Leiden an der eigenen Versteinerung aus Pflicht und Feuer. An der Versteinerung, die ja schliesslich dazu führt, dass sich seine Gemahlin nicht geliebt fühlt. Dona Proeza, die das seelische Gewicht des Dramas stemmt, würde wohl augenblicklich zermalmt, würde sie zu jener Kleinmädchenhaftigkeit Zuflucht nehmen, wie es im Tonfall, gerade auch im Gespräch mit ihrem Engel, vorkommt.

Weil diese „dritte“ Dimension sehr oft nicht vorhanden ist, wirkt der löbliche Versuch zu der Grösse, ergreifende Momente auch „ergreifend“ spielen zu lassen, zuweilen etwas hilflos. Unfreiwillig geraten sie so - nicht immer, aber immer wieder - sentimental. Uns ergreift vielleicht als Schlüsselreiz Mitleid und Emotion. Es entzündet sich aber selten in uns der Funke der zwingenden Mitempfindung.

Eine Erklärung hierzu aus einer anderen Ecke: die Arie gesungen von Maria Callas in diesem ganzen Theater-Abend, wo es vor schrill-grellen Einfällen mit allerlei Kitsch wimmelt, wird zur Zutat, aber nicht zum Referenz-Punkt der ästhetischen Empfindung. Und die hat ihre Struktur, die mit Intuition erforscht werden kann; am Mittwoch-Abend, in der Probe, kam es zu „Lichtbögen". Das Ensemble war offenbar so müde und weichgearbeitet, dass es im letzten Dialog zwischen Proeza (Maria Schrader) und Rodrigo (Jens Albinus) zu Momenten von „Entgrenzung“ kam. Die waren sehr schön. Am Freitag in der Vor-Premiere bliebs dagegen flach.

Es fragt sich auch, ob sich das Theater mit der neuen übersetzung Herbert Meiers einen Gefallen getan hat. Was wirkt wohl sinnlicher und ergreifender: wenn Dona Proeza sagt, ihr Geliebter sei mit ihr verbunden (neue Version) oder in ihr festgerammt (alte Version)? Oder dann dies: in der neuen Version spricht Proeza davon, dass nur Gott erfüllen könne. In der alten heisst es:“Füllen kann nur Gott“.

30. März 2003

Wertung **

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"Drei Sterne bitte!"

Claude Bühler widmet dem Seidenem Schuh eine Besprechung und Kritik in "vierfacher" Länge. Am Schluss vergibt er zwei Sterne: Unbefriedigend! Dies scheint mir nicht schlüssig, entweder stimmt der Text nicht oder die Anzahl der Sterne. Also doch drei Sterne!

Willi Rehmann-Rothenbach
Binningen



Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 26. Februar 2003
"Helges Leben"
Autorin: Sibylle Berg
Regie: Katrin Reiling

Zynische Attacke, pubertäre Aufführung

Eine Abendprogramm-Vorstellung in die eigene Bürger-Stube bestellt bei Frau Gott ein ältliches Mutanten-Päärchen, eine Frau Reh und ihr Herr Tapir. Diesmal soll's kein Krieg sein, sondern "nur ein kleines Menschenleben". Dieses "Menschenleben" ist unausgesetzter Horror. Der Vater ist ein biertrinkender Prolet, Mutter eine piepsstimmige Intellektuelle. Eine Person namens "Angst" drangsaliert ihn vor jeder Entscheidung, die er treffen muss, mit bösen Gedanken. Helge wird in der Schule immer ausgelacht, muss zum Psychiater, erschiesst seinen Vater, tötet, von der ersten Liebe verlassen, zwei Frauen und stirbt debil. Gefühle oder Liebe gibt's nicht, nur Sentimentalität und egoistische Ausbeutung.

Autorin Sibylle Berg führt mit diesem "schönen Schauspiel", wie sie es nennt, die Schande des Daseins vor. Das macht sie sehr clever: Mit viel psychologischer Genauigkeit spürt sie auf, wie die Menschen der Angst, dem Unvermögen, dem Missgeschick und dem Missverständnis zum Opfer fallen. Anstelle von Klärung folgt aber Denunziation. Das Opfer wird dem schnellen, lauten, bösen Gelächter des Publikums vorgeworfen.

Vielleicht hasst Frau Berg den Menschen in seinem grundsätzlichen Elend, vielleicht auch nur den Bürger, der dieses Elend halbbewusst vermehrt. Sie unterscheidet nicht. Raffiniert balanciert das Stück zwischen ernstgemeinter, treffsicherer Erörterung und überdrehtem Blödel mit Kifferwitz-Einfällen. Darin liegt seine subversive Wirkung.

Diese Balance hält die Inszenierung der Jung-Regisseurin Katrin Reiling nicht. Den Zuschlag erhält jedenfalls der Blödel, und zwar angereichert mit viel Unfug. Tausend Regie-Einfälle füllen die 70 Minuten. Herausgekommen ist bei dieser Schweizer Premiere eine Studentenaufführung in der Art einer pubertären Professoren-Veräppelung, auf Quasi-Niveau gehalten mit den professionellen Möglichkeiten eines subventionierten Staatstheaters. Trotz viel Tempo-Tempo und kalkuliertem Lacher-Humor, der auf die Stephan-Raab-Zuschauer-Generation abzielt, wird das sehr schnell sehr langweilig.

27. Februar 2003

Wertung *

**** Genuss
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere vom 13. Februar 2003
"Die sexuellen Neurosen unserer Eltern"
Autor: Lukas Bärfuss
Regie: Barbara Frey

Langweilige Bühnen-
Dummies zelebrieren Mechanismen

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss, Jahrgang 71, hat es mit diesem Stück seinen Eltern gezeigt. Viele jugendlich ergraute Häupter im Schauspielhaus gestern abend quiekten vor Vergnügen. Das da vorne auf der Bühne, das kannten sie gut: die politisch korrekte Verlogenheit der 68er-Bürger. Der Arzt will der jungen Dora, die nicht ganz recht im Kopf ist, unbedingt ganz genau und "moral-frei" erklären, wo und mit wem sie "Sexualität leben" dürfe. Ein ungeheurer Slalom um innere Lügen und ungeklärte Idealismen.

Die Mutter will Doras Medikamente absetzen, weil Dora nie lache. Vielleicht ist es der Mutter aber auch einfach langweilig. Der politisch korrekt unterdrückte Papi darf bei den Familien-Verhandlungen über Doras Schwangerschaft laut sagen, was alle wüssten, nämlich dass es in diesem Fall nur eine Lösung geben könne: die Abtreibung. Instinktsicher plappert Dora exakt die Phrasen ihrer Bezugspersonen unbewusst und laut nach, die aus wenig nobler Absicht gesprochen wurden.

Nur einer ist mitleidslos ehrlich zu Dora, ein Vertreter und Sadist. Zu dem steht Dora, weil der wenigstens zu dem steht, was er will: bumsen und sie prügeln. "Ficken", wie sie es unablässig sagt. Sie sagt, nur beim "Ficken" sei sie nicht traurig.

Der Mensch ist krank, sagte Bärfuss kürzlich in einem Interview. Weder Chance noch Krise billigt er zu in seinem Schauspiel, nicht mal ein trauriges Ende. Ausser Dora sind alle Personen langweilige papierne Bühnen-Dummies, dazu erfunden, um am Band einer dünnen Geschichte Mechanismen zu zelebrieren. Das schafft zwar "persönliche" Distanz für kühle Betrachtung, kostet aber die Beteiligung. Regisseurin Frey und ihr Ensemble haben fast keine der Figuren konsequent ausgeformt.

Dora ist das Interessanteste des Abends. Sandra Hüller gibt ihr ein ergreifendes tiefes kindliches Auflachen und mit viel Präsenz jene staksige Körperlichkeit, bei der man fürchtet, sie könnte sich beim sich Niedersetzen einen Fuss abbrechen.

14. Februar 2003

Wertung **

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"Selbsterkenntnis?"

"Der Mensch ist krank", diagnostiziert Bärfuss. Bärfuss? Das war doch der Kulturschaffende, der unser Land und den Nationalfeiertag mit seinem Expo-"Affentheater" in den Dreck gezogen hat. Mit seinem Engagement hat sich das Basler Theater endgültig selbst disqualifiziert. Die Auswirkungen werden sich dann in der nächsten Subventions-Debatte zeigen.

Abdul R. Furrer
Grossrat
Basel



Theater Basel, Luftschutzkeller
Premiere vom 6. Februar 2003
"Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen"
Autor: Nikolaj Gogol
Regie: Anne-Sophie Mahler
Mit Ueli Jäggi

Dem Wahnsinnigen fehlt der Wahnsinn

Der Weg hinunter zum Elend des Axenti Poproschtschin führt beim Theater Basel erstmal in den Luftschutzkeller des Theaters, vorbei an Requisiten vergangener Produktionen. Zum Beispiel an Schaufensterpuppen, die sich wahrscheinlich nur als Puppe verstellen, während wir an ihnen vorbeihuschen ...

Wahnsinn beiseite: Dieser Weg in den kleinen, niedrigen Beton-Keller-Raum, wo ein Bett ein schäbiges Schlafzimmer markiert, das ist das Unheimlichste des Abends. Leider. Denn die 1835 entstandene Ich-Erzählung wäre durchaus ein Stoff für einen intimen Monolog-Abend, der in die Glieder fährt: wie der Held selber erzählt, dass er wahnsinnig wird, und es nicht merkt. Schauerlich, wie der Beamte Axenti selber überrascht über sprechende Hündchen berichtet. Am Schluss erklärt er als "spanischer König" die Irrenanstalt für Spanien und seine kahl rasierten Mitinsassen als Granden und Soldaten.

Gogol erklärt nicht, warum sein zutiefst schüchterner aber nobler Held durchdreht. Aber das Durchdrehen ist für den Helden unausweichlich, undurchdringlich, undiskutabel. Er durchschaut es nicht.

Auf seinem Amt zieht man ihn als hoffnungslosen Fall durch. Dem Chef darf er die Federkiele zurechtschneiden. Seine Verliebtheit in die Direktorentochter scheint mehr dazu zu dienen, damit er noch etwas bewundern und begehren darf.

Ueli Jäggis Axenti dagegen ist - vernünftig. Ein sympathischer, verhinderter Philosoph, allein in seinem Zimmer, ein intellektueller Phlegmatiker, der sich zu intelligent hält für sein Schicksal, und aber bald auch zu feige oder zu ungeschickt, es zu ändern. Der "Unsinn", der ihm einfällt, fällt ihm auf, und er tut ihn ab.

Die Detailfreude der Text-Ausgestaltung, und der Versuch, mit dem Wesen Axentis sensibel umzugehen, ergeben interessante, auch poetische Theater-Momente. Nicht immer gelingt aber die Text-Umsetzung so klar und deutlich, dass auch der Text-Unkundige sicher ist, den Sinn verstanden zu haben. Und gerne fühlte man, was bei Axenti aus tieferen, unergründlicheren Tiefen hervorkommt.

7. Februar 2003

Wertung **

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Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere vom 16. Januar 2003
"4.48 Psychose"
Autorin: Sarah Kane
Regie: Ricarda Beilharz
Mit: Mit Chantal LeMoign, Eva Löbau, Kathrin Wehlisch, Steven Schwarz

Wer hat Angst vor Sarah Kane?

Gewiss hatte das vollzählige Pr emieren-Publikum keinen locker-leichten Abend erwartet. Man weiss: Das gefeierte Drama-Genie Sarah Kane erlebte die Uraufführung dieses letzten Stücks nicht, beging 28-jährig Selbstmord, und "4.48 Psychose" behandelt ohne Handlung eben gerade Depression, innere Isolation und Leben am Rande des Suizids.

Doch nach freundlichem Applaus ging das Publikum sofort zur Allgemein-Plauderei über. In den neunzig Minuten davor hatte sich auf der Bühne ein grell-schriller bad trip abgespielt. Es wurde geprügelt, geschrien, gekotzt, gelacht, getanzt, geknutscht und ein Hirn verspeist. Ein Abgrund, clever dargeboten, mit vielen Überraschungs-Effekten, gespielt auf der modischen Kippe von spielerischem Zynismus und potenzieller Anteilnahme.

Auf der Bühne sehen wir einen mannsgrossen Pinguin, einen gefiederten Engel mit umgebundenen Barbie-Puppen, Punk-Gören im Schottenröckchen und Vivienne-Westwood-Chic, Psychiater, Bizarr-Erotik-Rituale mit Hostie oder die einsame Frau im Regenmantel.

Dazu gibt’s viel englischen New-Wave-Pop und Verweise auf Renaissance-Kunst. Auf der kalten "Niemandsland"-Bühne liegt ein Belag, der jeden Schritt knirschen lässt wie auf Schnee. An dieser Psychose wurde viel gearbeitet. Das Ensemble geht beherzt zur Sache.

Aber es gibt schwere Opfer: Der lyrische Bogen des Stücks wurde von einem Gerüst aus Spiel-Handlungen und Revue-Nummern verhackstückt und flachgeklatscht. Der Text von Kane ist eine brüchige Gedankenwelt aus Dialogen, Sprüchen, geistigen Bildern - die vierköpfige Schauspiel-Crew donnert ihn über Strecken völlig verständnislos und unverständlich herunter. Das Anliegen Kanes blieb unberührt.

17. Januar 2003

Wertung **

**** Genuss
*** Kurve gekriegt
** unbefriedigend
* ärgerlich

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"Begrüssenswerte Initiative"

Besten Dank für diese begrüssenswerte Initiative. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

Walter P. von Wartburg
Präsident Basler Theater
derzeit Tokyo



"Das absolute Musikgehör für Theater"

Lieber Claude, nur wenige sagen in dieser Stadt mit so wenig Wörtern so viel. Du hast das absolute Musikgehör für Theater.

Willy Surbeck
Bluesmusiker
Allschwil


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