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Eingebettete Wirtschafts-Journalisten

Die Wirtschaft stagniert! Das ist der neue neoliberale Schlachtruf. Immerhin will sich ein Unternehmen wie Google in Zürich niederlassen - so schlimm kann es also nicht stehen. Zutreffen könnte aber, dass sich die Arbeitslosigkeit nachteilig auf die Wirtschaftslage auswirkt. Entlassungen belasten die allgemeine Wirtschaftslage, sie sind nicht die Lösung des Problems. Vielleicht liegt die Stagnation auch an den Gewinnen, vor allem der Banken. Das ist Kapital, das aus der Wirtschaft gesaugt wird und ihr dann fehlt.

Aber so wird kaum je argumentiert. Dafür haben wir in den vergangenen Wochen unglaubliche Geistesausbrüche der "embedded journalists" in den Wirtschaftsredaktionen zu lesen bekommen.

So meinte einer von ihnen etwa, die Millionenlöhne der Bosse seien "ohne Belang". So unerheblich können sie aber kaum sein, wenn die UBS zum Beispiel an den Todesanzeigen für ihre Mitarbeiter 70‘000 Franken jährlich einsparen will. Mit dem Lohn von UBS-Präsident Marcel Ospel (17,2 Millionen) würden keine Stellen gerettet, meinte der gleiche Journalist. Legt man jedoch den Gewinn der Bank (6,3 Milliarden) zu Grund, sieht die Sache anders aus. Ospel ist auch kaum der einzige Lohnempfänger, Peter Wuffli und zwei, drei Andere werden auch nicht mit leeren Händen nach Hause gehen. Nur das Einkommen von Ospel als Vergleich heranzuziehen, ergibt eine falsche Aussage. Aber so geht die Diskussion, wenn man vor lauter Wassermassen die Tropfen übersieht.

In das Lamento ist auch der Schweizerische Gewerbeverband eingestimmt, als er, um einen "dauerhaften Aufschwung" zu erzielen, den Vorschlag machte, das Rentenalter auf 67 Jahre festzusetzen und das Einkommen im Alter zu senken, weil die Leute ja nicht mehr voll leistungsfähig sind. Wären tiefere Löhne und längere Arbeitszeiten ein Mittel gegen die Stagnation und für den Aufschwung, müssten die Löhne in Fortführung der eingeschlagenen Logik halbiert werden und läge das Rentenalter bei 70, 71, 72 noch besser.

Ich habe schon immer den Verdacht gehabt, dass die Beschäftigten das grösste Hindernis für das wirtschaftliche Wohlergehen bilden, das ohne sie sehr gut auskommen würde. Andererseits können tiefere Löhne kaum den Ausschlag geben, wenn die Millioneneinkommen "ohne Belang" sind.

Aber auch das ist kein Thema. Ebenso wenig wie die Entlassungen. Carl Wild in der "Basler Zeitung", der immer ein verständnisvolles Wort für die Schwerarbeiter in den Teppichetagen findet, musste zugeben, dass der Zusammenhang zwischen Unternehmensgewinnen und Stellenabbau "nicht einmal falsch" sei. Denn auf diese Weise könnten die verbleibenden Stellen erhalten werden. Er vergass nur, dass die Rest-Jobs in der nächsten Runde an die Reihe kommen und er dann wieder das Gleiche sagen wird. Sehr genau weiss er auch, ohne es aber zu sagen, dass Stellenabbau oder Offshoring nichts mit der Sanierung maroder Unternehmen ("hart, aber nötig") zu tun hat, denn auch bei glänzender Gewinnlage wird abgebaut, wie UBS, Deutsche Bank, Swisscom und neuerdings auch Nestlé zeigen.

Ich sage: Versucht es einmal umgekehrt mit Lohnerhöhungen, nicht nur bei den hohen Einkommen. Das würde mehr Kaufkraft zur Folge haben, mehr Konsum, mehr Umsatz, mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, mehr Steuereinnahmen. Rosige Zeiten stünden bevor.

8. März 2004

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ECHO
"Habe ich in der Wirtschaftskunde etwas nicht begriffen?"

Gut getroffen. Wie fast immer. Bravo!

Unanständige Riesengewinne und Millionenlöhne! Ich lese und staune. Das Thema spricht mich an. Ich neige dazu, zuzustimmen. Wer kann schon dagegen sein, der viiiel weniger bekommt und sich auch anstrengt und auch etwas leistet?  Doch dann blättere ich wieder zurück und stolpere über einen Schluss, den ich nicht nachvollziehen kann: "Das ist Kapital, das aus der Wirtschaft gesaugt wird und ihr dann fehlt."

Eine Frage stellt sich mir: Wenn einer für seinen Job sagen wir 80'000 Franken bekommt, so bleibt dieser Betrag der Wirtschaft erhalten, weil er ja wieder ausgegeben wird. Wenn einer nun aber x Millionen bekommt - wird dieses Kapital dann der Wirtschaft entzogen? Was machen denn die Top-Verdiener mit Ihrem übergrossen Verdienst. Wenn sie das Geld verbrennen würden, wäre die Aussage wohl richtig. Würde es dauerhaft in Herrn Ospels Kopfkissen parkiert, wäre die Aussage vorübergehend wohl auch richtig.

Aber was machen denn die Herren wirklich damit? Anlegen? Ausgeben? Dies wäre wohl alles auch "Wirtschaft". Auch wenn wir jetzt annähmen, all diese Gehälter würden auf sagen wir 200'000 Franken plafoniert, dann würde der Gewinn um den eingesparten Betrag höher und im Endeffekt würde wohl der Zins oder der Preis etwas sinken. Das wäre zwar gut für die Schuldner, aber für die ganze Wirtschaft? Würden deswegen mehr Leute angestellt? Ist das jetzt ein Widerspruch oder ein Paradoxon?  Oder habe ich in Wirtschaftskunde seinerzeit etwas nicht begriffen?

Peter Ensner
Basel

Vom Wort zum Bild und vom Bild zum Ton

Wenn ein Bild mehr als tausend Worte sagt, hat das wahrscheinlich damit zu tun, dass das Bild eine grössere und vor allem sinnlich wahrnehmbare Kommunikationsfläche ist als das Wort. Ein Blick scheint auszureichen, damit auf der Stelle alles klar ist. Ich sehe, ich verstehe.

Die Bildwerke in Kirchen und Tempeln machen das deutlich. Von der unmittelbaren Kommunikation profitiert die Meditation, aber auch die Werbung, der Film, das Fernsehen, die virtuellen Bilder. Wir leben in einer visuellen Umwelt, weil wir uns an das Sichtbare halten, das nicht lügen kann. Als ob die sichtbare Welt nicht etwas wäre, von der wir uns ein Bild machen, das heisst eine eigene Vorstellung. Dass die Welt Maya ist, das heisst Trug, Einbildung, Schein, ist die buddhistische Variante von Platons Höhlengleichnis. Die Bilder im verdunkelten Raum, zum Beispiel im Kino oder in der Kathedrale beim Betrachten der farbigen Fensterbilder, ist für viele Menschen glaubwürdiger und einleuchtender, weil direkter, als das, was weit weg draussen geschieht.

Aus diesen Gründen dominieren die Ideen über die Realität, der Idealismus über den Realismus, der Glaube über den Logos.

Das Wort hingegen ist vieldeutig und muss interpretiert werden. Der Begriff "Messer" lässt offen, ob es sich um ein Essbesteck für eine gedeckte Tafel handelt oder um ein Mordinstrument. Das Messer auf einem Bild dagegen ist das Messer, das ich sehe, kein anderes. So gesehen, sind dem Bild enge Grenzen gesetzt, es bezieht sich auf sich selbst und ist ohne Ausweg, nichtssagend, oberflächlich. Aber das stimmt nur beschränkt, weil auch Bilder gelesen werden müssen. Um sie herum hat sich eine ganze Wissenschaft gebildet, die Ikonologie. Zum Beispiel drückt eine Fotografie von Waffen schwingenden Menschen nur eine Beliebigkeit aus. Was sie darstellt, geht aus ihr nicht hervor. Erst wenn sie als "Horde plündernder Rebellen" oder als Dokument eines "erfolgreichen Aufstands gegen den verhassten Diktator" kommentiert wird, präzisiert sich ihre Aussage.

Das Bild ist eingänglicher als das Wort, das auf einen überlieferten Zusammenhang, einen Kontext, angewiesen ist. Je mehr die Lesefähigkeit abnimmt, was offenbar der Fall ist, desto mehr gewinnt das Bild an Einfluss. Dementsprechend nehmen die Bilder in den Printmedien an Umfang zu und wird der Textanteil reduziert, bis er ganz entbehrlich geworden ist. In gewissen Modejournalen ist das bereits eingetreten.

Auf diese Weise kommt das Bild den Erwartungen der schnelllebigen Zeit entgegen, trotz oder gerade wegen seiner Ungenauigkeit, während Wort, Schrift und Buch altmodische Techniken und langsame Medien mit hohem Anspruch sind. In einem Buch kann ich anhalten und unter Umständen eine Seite zurückblättern, bei den Bildern nur zum folgenden übergehen, so schnell wie möglich, wie im Film (denn sonst fällt die Bewegungsillusion weg).

Inzwischen ist aber auch das Bild überholt und haben die noch schnelleren Töne die Funktion der Leitkommunikation übernommen. Musik breitet sich überall aus, niemand kann ihr entgehen. Wir reagieren beim Hören von Musik spontan und sensoriell auf akustische Signale und Impulse. Wir sind ihr ausgeliefert. Sie verschlägt uns buchstäblich die Sprache.

23. Februar 2004

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Die Linke und das Projekt "Zukunft"

Sollte sich die Linke darauf einlassen, die Verteidigung der Anliegen ihrer traditionellen Anhänger zu ihrem Hauptziel zu machen, liefe das eine konservative Politik hinaus. Die bürgerliche Seite kann das auf ihre Art ungleich viel besser erledigen: Weniger Steuern (für eine Minderheit), mehr Strassen, Vorrang der Wirtschaft, Dankgebet an den Gott des Bankgeheimnisses. Demgegenüber müsste die Linke ihre Aufgabe darin sehen, Ideen zu generieren und Konzepte zu entwickeln und auf diese Weise die Zukunft vorzubereiten.

An neuen Themen und Sachfragen fehlt es nicht: Wissenschaft, Bildung, Informatik, Medien. Die Parlamente sind nicht mehr in der Lage, angemessen darauf einzugehen. Wissenschaftliche Probleme werden, wie zum Beispiel die Gentechnik, sofort auf wirtschaftliche Interessen reduziert. Das ist nicht nur zu wenig, das ist ungenügend. Die entscheidenden Fragen treten heute ausserhalb des Politik-Zoos auf, wie die Globalisierungsgegner vorführen, die nicht die Globalisierung ablehnen, sondern für eine andere Globalisierung eintreten, das heisst für eine weltweite Zivilgesellschaft. Es geht um die Öffentlichkeit, die im Zeitalter der Privatisierung auf dem Spiel steht.

Die grösste Herausforderung, mit der wir es heute zu tun haben, liegt aber wahrscheinlich in den bedrohten Rechten und Freiheiten des Individuums, denen sich das Bürgertum angenommen hat, solange es noch ein revolutionäres Potenzial bildete.

Seitdem der Mensch nicht einmal mehr als Konsument in Betracht fällt (die Konsumenten geniessen weder Subjektivität noch Autonomie), ist er heute in Gefahr, zu einem Objekt der Überwachung und zu einer Verschiebemasse auf den globalen Märkten zu werden. Und die Bio-Industrie versucht, sich seiner zu bemächtigen, um seine Gene patentieren zu lassen, was auf eine zynische, aber kaum wahrgenommene Form von Leibeigenschaft hinausläuft. Die Zeit ist gekommen, dass sich die Linke dieser Art von Problemen annimmt. Erst recht, wenn man sieht, wie die Menschen in kleinen Unternehmen innovativ und kreativ forschen und arbeiten und auf diese Weise wahre Werte schaffen.

Das ist etwas, das sehr viel mit Modernität zu tun hat, und etwas völlig Anderes als die "Werte" von Josef Ackermann von der Deutschen Bank, der damit die Summen meint, die aus der Wirtschaft herausgepumpt und aus "appreciation awards" (Wertschätzung) in den Chefetagen verteilt werden.

Mit einer prospektiven Fokussierung auf die neuen Probleme der Zeit müsste die Linke nicht mehr zwischen Marktanpassung einerseits (wie es Schröder und Blair zeigen) und Glaubenslehre andererseits (Berufung auf Arbeiterklasse, Multikulturalität und so weiter) schwanken. Beides ist der falsche Weg. Links denken und handeln würde dafür umso mehr heissen, ebenso offensiv wie optimistisch ans Werk zu gehen. Es würde kritisches Urteilen anstelle ideologischer Korrektheit einschliessen.

Am Ende hätten wir es mit einer liberalen Haltung zu tun, die nicht Wirtschaftsergebenheit meint, sondern dezidierte Teilnahme aller an einem Projekt, das Zukunft heisst.

9. Februar 2004

 

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Wenn die Krankheit zum Normalfall gemacht wird

Alle Versuche, die Mängel der Krankenversicherung zu kurieren, werden erfolglos bleiben, solange nicht ein paar einfache Einsichten berücksichtigt werden. Dazu gehört als Erstes, dass Krankheit eine Definitionsfrage ist, und daraus wiederum lassen sich einige notwendige Schlussfolgerungen ziehen.

Gesundheit ist mehr als alles Andere ein symbolisches Gut. Die Ärzte haben die Aufgabe von modernen Seelenführern übernommen und die Medizin in eine religiöse Sache gewendet. Der Arztbesuch bekommt die Bedeutung eines Glaubensaktes.

Davon profitieren die Ärzte. Je grösser deren Zahl ist, desto teurer wird die Behandlung, so wie nach der Fuzzy Logic mehr Strassen zu mehr Stau führen und nicht zu dessen Beseitigung. In Labrador sagte mir einmal ein Innut-Indianer: "Wir waren unser Leben lang gesund. Aber seitdem die kanadische Regierung uns einen Arzt zugeteilt hat, sind wir jedes Mal krank, wenn wir zu ihm gehen."

Der Kranke mutiert auf diese Weise vom Patienten zum Kunden. Er will nicht behandelt, sondern bedient werden.

In diesem Sinn produziert die Pharmaindustrie neue Produkte, für die neue Krankheiten erfunden werden müssen, zu denen sie passen. Sie hat ein evidentes Interesse an einer kranken Bevölkerung. Wenn man an die Zahl der Beschäftigten in der Pharmaindustrie denkt, versteht man besser, warum es fast unmöglich ist, die Medikamente zu verbilligen.

In diesen Bereich gehört auch die Festlegung von Grenzwerten. Wenn zum Beispiel die Cholesteringrenze möglichst tief angesetzt wird, sind umso mehr Menschen davon betroffen und behandlungsbedürftig.

Diese kunden- und warenorientierte Ideologie setzt sich im Bereich der medizinischen Diagnostik fort. Wenn immer neue Krankheiten definiert werden, ist das für die medizinische und pharmazeutische Industrie enorm vorteilhaft. Es ist wie an den Olympischen Spielen, wo immer neue sportliche Disziplinen den Medaillensegen vergrössern.

Was war also zuerst: Die Krankheit oder die Heilung? Eine Frage der Definition. Erst wenn der Diskurs umgekehrt wird, fällt einem Manches deutlicher auf, zum Beispiel die Werbung für Medikamente im Fernsehen.

Aus diesen Überlegungen leitet sich die Frage ab, was Gesundheit überhaupt ist. Eine Sache der Einstellung, würde ich sagen, etwas, das damit zu tun hat, was für eine Vorstellung ich von mir selbst habe. Darum ist es ein Skandal, dass Menschen, die ihre Gesundheit wider besseres Wissen gefährden, zum Beispiel durch Rauchen, die gleichen Prämien bezahlen und die gleichen Leistungen beziehen wie Menschen, die versuchen, gesund zu leben.

Aus allen diesen Gründen muss die bisherige Krankenversicherung durch eine Gesundheitsversicherung ersetzt und diese als Vertrag verstanden werden, der Pflichten und Rechte des potenziellen Patienten regelt. Auf diese Weise würde Schluss gemacht mit der falschen Voraussetzung, dass die Menschen krank sind und geheilt werden müssen, und die Einsicht könnte sich durchsetzen, dass Gesundheit der Normalfall ist und Krankheit die Störung oder Abweichung, die im Notfall, das heisst wenn es nötig ist, behoben werden muss.

26. Januar 2004

 

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"One World" - eine erstarrende Welt

Es hat vielleicht einmal eine noch gar nicht weit zurückliegende Zeit gegeben, in der alles, was wir kennen, nach dem Prinzip der Dualität organisiert war. Diese polare, das heisst auf Gegensätzen beruhende Zweiheit war die Ursache der Energie, mittels derer die Welt in Bewegung gehalten wurde: Gott und Teufel, Himmel und Hölle, Mann und Frau, "wir" und "die Anderen", Kapitalismus und Sozialismus, These und Antithese mit einer Synthese als Ausgangspunkt für eine neue dialektische Runde.

Kontroversen und Konkurrenzverhältnisse waren die Bedingung für einen dynamischen Prozess und permanenten Wandel. Solange auf jede Sache eine Gegensache kam, die sie antrieb oder in Frage stellte, auf jeden Fall provozierte und zum Zünden brachte, war dafür gesorgt, dass die Energie erhalten blieb und kein Stillstand eintrat.

Und heute? Da sieht es aus, als ob es damit zu Ende ginge. Die Welt wird globalisiert, vernetzt, sozusagen universalisiert: eine kommunizierende Röhre, in der die Information endlos zirkuliert, ohne Frischluftzufuhr von aussen. Mit einem Wort: One world.

Seither droht das Essenzielle einer verhängnisvollen Erstarrung zu erliegen. Das so entstehende Einerlei endet im Warenmarkt der Beliebigkeit, des Durcheinanders und der neuen Unübersichtlichkeit. Alles ist mehr Zufall und Willkür als Ableitung eines antagonistischen Grundschemas.

Mann und Frau, eine überholte Konzeption, sind verschwunden, und wir haben es mit lauter Leuten zu tun, die "ich!" sagen. An die Stelle der Kontroverse ist der Konsens getreten, um den gerungen wird, als könnten durch ihn alle Übel aus der Welt geschafft werden. Schwarz und Weiss sind grau geworden. Nicht einmal oben und unten haben vor der modernen Physik Bestand, der Raum ist überall. Und die "Achse des Bösen", die die Welt in Alliierte und Schurken teilt, hat nicht Trennung, Verteilung, Differenz im Sinn, sondern sucht das Heil in einer vereinheitlichten Welt, in der die Schurken ihre Massenvernichtungswaffen ablegen, die Vereinigten Staaten ihre eigenen behalten und verbessern und alle Ausseramerikaner auf die Stars und Stripes einschwören.

Die Vorstellung einer dual strukturierten Welt ist eine Weltanschauung, der eine andere, nonduale Auffassung entgegen steht. Im Augenblick können Bestrebungen beobachtet werden, auch diesen vielleicht letzten Gegensatz zu eliminieren. Mit einem hinterlistigen Gedanken: Nondualität, als ursprüngliche Ureinheit verstanden, aus der sämtliche Erscheinungen hervorgegangen sind, ist eine spirituelle Idee. Das aber kann kaum gemeint sein, wenn versucht wird, die Gegensätze aus der Welt zu schaffen. Eher verbirgt sich dahinter der heimliche Wille, die Welt zu kontrollieren und zu verwalten, was so lange unmöglich ist, als sie in viele Fraktionen aufgeteilt ist.

Vielleicht genau deshalb bilden sich überall stets neue, nicht unbedingt subversive Ansteckungs- und Differenzierungsherde, durch Fussballclubs, Sekten, Telekommunikations-Gesellschaften und so weiter. Offenbar ist das Ziel, durch Fusionen Monopole und andere Klumpen zu bilden, ebenso gross wie die Versuche, sie sofort wieder zu unterlaufen. Bleibt also die duale Ordnung zuletzt doch erhalten? Auf jeden Fall geht der Kampf weiter.

12. Januar 2004

 

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"Mutige Worte" gegen die Bonzen-Herrschaft

Mehr "Mut zur Wahrheit", "harte und unpopuläre Entscheide": Mit solchen Drohwarnungen vor dem Wohlfahrtsstaat, unter dem sie zu leiden haben und den sie lieber heute als morgen abschaffen würden, lassen sich Schweizer Wirtschaftsführer gern vernehmen. Womöglich leiden sie aber noch mehr unter dem Volk, das sie, wenn sie nur könnten, durch ein anderes ersetzen würden, das nicht penetrant auf seinen sozialen Errungenschaften besteht. Denn ohne einen radikalen Kurswechsel, meine Damen und Herren Aktionäre, kommen wir heute nicht mehr weiter.

Das ist ein altes Lied mit einem penetranten Refrain, aber was ist eigentlich genau gemeint?

Weniger Regulierungsdichte, wovon so oft die Rede ist, heisst, dass die Verfügungsgewalt privatisiert und an wenige Entscheidungsträger delegiert wird. Das angebliche Hindernis Sozialstaat abzubauen läuft auf ein Parallelimperium zur demokratischen Öffentlichkeit hinaus. Was ist gegen die Staatsquote einzuwenden, wenn gleichzeitig zwei kleine Milliarden Steuergelder in die "Swiss" gebuttert werden, um den Abbau von Arbeitsplätzen zu verhindern, die dann doch schrittweise eliminiert werden? Den Kündigungsschutz zu lockern macht die Belegschaften zur Manipuliermasse. Und wie soll das Kunststück bewerkstelligt werden, Steuern zu senken, die man nicht bezahlt oder doch juristisch trickreich umgeht? Die Forderung nach weniger Staat beziehungsweise weniger Sozialstaat entspricht der Weltanschauung derer, die schon alles, aber noch nicht genug haben.

Mutige Worte, keine Tabus? Ja, mit umgekehrten Spiessen! Wer zieht die Wirtschaftsführer für ihre Fehlentscheide zur Rechenschaft - zum Beispiel Philippe Bruggisser, der den Absturz der alten Swissair verursacht hat? Wie steht es mit der Milliardenschuld der Firma Erb bei der Crédit Suisse, was wird da gespielt? Vergessen wir in diesem Zusammenhang auch nicht, dass der famose Bundesrat Pascal Couchepin Ende des Jahres 1999 Martin Ebner als Vorbild, als "Millionär zum Anfassen", bezeichnet hat. Aber das war eben noch, bevor Börsen- und Rentendebakel heillose Schäden angerichtet haben.

Einige Exponenten der Wirtschaft lassen sich als Heilsbringer feiern, aber alles, was sie tun, wenn ihnen nichts mehr einfällt, besteht darin, die Anderen zur Kasse zu bitten. Zwar geht angeblich nichts über eine florierende Volkswirtschaft, aber wo ist das Volk geblieben? In den Aufschwungprognosen der konjunkturellen Kaffeesatzleser ist viel von Wachstum die Rede, für das alles unternommen werden muss, aber es ist erwiesen, dass mit mehr Wachstum keine nennenswerten Folgen für die Mehrheit der Menschen verbunden sind, sondern sich nur die Ungleichheit jeden Tag noch etwas mehr verstärkt.

Die falschen Reden, die einem um die Ohren dröhnen, sind kaum noch zum Aushalten: Mehr Markt, weniger Staat, Überwindung der Wachstumsschwäche, weniger Sozialabgaben und Umweltvorschriften, Strukturanpassen, Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit, Verbesserung der Ertragslage. Gemeint scheint damit eher ein gesellschaftlicher Umbau mit dem Ziel einer neuen Bonzenherrschaft zu sein, als dass alle gemeinsam am Fortschritt arbeiten und teilhaben.

29. Dezember 2003

 

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Was zu tun und was zu vermeiden ist

Der Verdacht gegen die Moral liegt in der Annahme, dass ihr Pathos eine weit verbreitete Beliebigkeit verdeckt. Die verallgemeinerbaren und bisher vereinbarten Wertvorstellungen sind im Begriff, sich zu relativieren und verflüchtigen, was eng mit dem Verlust der Öffentlichkeit und des Konsenses zu tun hat. Der expansive Individualismus, der als höchstes erstrebenswertes Ziel betrachtet wird, und die Idee der Selbstverwirklichung, die immer mehr um sich greift, lassen sich mit keiner gesellschaftlichen Norm vereinbaren.

Wenn aber die alten Werte schwankend geworden sind, woran kann man sich dann noch halten? Was wäre unter den veränderten Verhältnissen unter verantwortlichem Handeln zu verstehen?

Erschwert wird eine Antwort durch den Umstand, dass die modernen medialen, technischen, wissenschaftlichen Möglichkeiten von einer solchen Tragweite sind, dass die Menschen vor ganz neue Anforderungen gestellt werden. Zum Beispiel verlangt industrielle Warenproduktion heute aufgeklärte Konsumenten, die sich über ihr Verhalten Rechenschaft geben und ihre Entscheidungen in einen vernünftigen Rahmen stellen.

Das kann vielerlei heissen, aber ein paar Hinweise auf einen Umriss sind trotzdem möglich. Es bedeutet zum Beispiel, die eigenen Handlungen im Zusammenhang zu sehen, über die engen, eigenen Grenzen hinaus, und die Folgen abzusehen. In einem gewissen Mass ist das sehr wohl möglich. Gemeint ist also eine ökologische Vorstellung. Diese wiederum schliesst die Reduktion und Einschränkung von Eingriffen jeder Art mit ein. Wenn ich mit dem geringsten Aufwand an Maximum an Wirkung und Ertrag erziele, hat das sehr viel mit Modernität zu tun.

Das grösste Übel rührt heute davon her, dass die Menschen nach ihren eigenen Überzeugungen handeln und nur tun, was ihnen richtig erscheint. Der Zustand der Welt sieht dementsprechend aus. Man muss den Ideologen, bezahlten Propheten, Fundamentalisten und Rettern der Menschheit misstrauen - und gleich bei sich selber damit anfangen. Es geht nicht jedes Mal um die Wurst.

Aber ohne deutliche Haltung geht es nun einmal auch nicht. Die Frage kann dabei also nicht sein, was zu tun ist, sondern was im Gegenteil zu vermeiden ist. So kann eine skeptische Einstellung an die Stelle der Überzeugungen treten. Weder Zustimmung noch Ablehnung, meinte Sextus Empiricus, der griechische Skeptiker, und Michel de Montaigne zog es vor, zu unterscheiden anstatt zu urteilen. Denn eine kritische Einstellung ist unerlässlich und steht nicht im Widerspruch zur Forderung nach methodischem Zweifel.

Wichtiger als alles andere aber ist vielleicht das Lachen, das verhindert, in eine triefende Tugendhaftigkeit zu verfallen. Das Erste, was ich also tun werde, besteht darin, über diese Kolumne zu lachen und so der Hochglanzmoral zu entkommen. Es liegt nämlich nichts an grossartigen Bekenntnissen, aber sehr viel an kleinen, individuellen Massnahmen aus Einsicht und Notwendigkeit. Das könnte ein bescheidener Anfang sein, um sich neu und anders zu orientieren.

15. Dezember 2003

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ECHO
"Recht elitäre Formulierungen"

Lieber Aurel Schmidt, ich schätze Ihre Nachdenklichkeit ganz ausserordentlich - aber weshalb haben Sie den ersten Abschnitt Ihrer heutigen Kolumne so formuliert, dass wohl jede/r, die/der ernst genommen werden möchte als Leser/in, zusammenzuckt und sich eigentlich - vor der weiteren Lektüre - schon wegen der doch recht elitären Formulierungen und schwer nachvollziehbaren sprachlichen Pirouetten rasch abwenden möchte? Wertvorstellungen relativieren "sich" nicht; sie werden relativiert durch (uns) Menschen, die diese überkommenen Wertvorstellungen nicht mehr oder nur teilweise als die ihren empfinden und ihr Leben entsprechend gestalten (falls man denn von "gestalten" sprechen kann und nicht vielleicht eher vom Mitschwimmen im Mainstream reden müsste).

Der Schluss hingegen gefällt mir sehr - solange Sie (und wir alle) noch lachen können über uns selbst, ist nichts verloren. Und das hoffe ich sehr, sehr fest.

Gisela Traub
Basel


Die Verbesserung des Menschen

Kürzlich wurde in den Vereinigten Staaten von Nordamerika bekannt, dass die Praxis des Dopings im Sport offenbar weiter verbreitet ist, als je angenommen wurde. Ein Aufschrei ging durch die Menge und die Medien. Die Lage wurde mit den Verhältnissen in der früheren Sowjetunion verglichen, aber die Empörung hatte etwas Heuchlerisches, denn das Doping ist schliesslich eine Möglichkeit, um die knallharten Forderungen zu erfüllen, die im Sport ultimativ gestellt werden.

Entgegen einer naiven, aber weit verbreiteten Meinung ist im Sport nicht das Mitmachen die Hauptsache, sondern das Gewinnen. Man denke bloss an die finanziellen Summen, die im Sport investiert sind! Sport ist eine wertschöpfende Tätigkeit, ein Business, eine Industrie, und die Konkurrenz schläft nicht. Daher müssen die Sportler zu kapitalistischen Hochleistungsmaschinen getrimmt werden, die die Produktion von Siegen garantieren, koste es, was es wolle. Die Sponsoren und das Publikum erwarten es. Niederlagen werden nicht geduldet.

Allerdings geht es hier auch um eine Ideologie, die über die Grenzen des Sports hinaus gegriffen hat. Doping ist längst eine Alltäglichkeit im Leben der Menschen.

Das Magazin "Facts" veröffentlichte unlängst eine Titelgeschichte über "Doping für das Gehirn". Jawohl: Doping. Power-Pillen sollen die Menschen "klüger, wacher, glücklicher" machen. Ist das nicht wunderbar? Was soll man dagegen einwenden, erst recht, wenn man berücksichtigt, was für ein Markt sich hier für die die chemische Industrie auftut? Nur spricht man statt von Dopingmitteln heute eher von Lifestyle-Produkten. Viagra und Extasy gehören in das gleiche Paket. Kehrseite der Amphetamine sind Beruhigungsmittel wie Retalin. Die Entwicklung beginnt mit vitaminisiertem Reis und Salzersatz-Produkten. Der chemisch dosierte Mensch steht vor der Tür.

Aber was ist das: der Mensch? Was ist das für eine Sache: der Körper? Das ist die Frage. Von Natur aus ist der Mensch unvollkommen, könnte man manchmal meinen, und es wird alles getan, um ihn den aktuellen Erwartungen und Anforderungen oder auch der Mode anzupassen. Wir laborieren an einem Kunstprodukt und stellen den neuen Menschen nach einem bestimmten Standard-Design her. Wer davon abweicht, ist krank und muss dringend einer Korrektur, das heisst einer Behandlung unterzogen werden.

Dabei muss man aufpassen, nicht altmodisch zu wirken, wenn man sich gegen diese Entwicklung wehrt, und nicht zynisch, wenn man sie akzeptiert. Der Mensch ist keine stationäre Humaneinheit, die Evolution schreitet voran. Wir haben uns durch bessere Ernährung, Jogging, gesunde Wohnverhältnisse weiter entwickelt, neu sind Kosmetika, Pharmaka, Aufbau- und Anti-Aging-Präparate hinzu gekommen. Wir unterscheiden uns von den Troglodyten, die mit den furchtbaren Keulen durch die finsteren Wälder rannten. Naja, einige. Andere weniger.

Wir leben nun einmal in einem vereinbarten aufgeklärten Darwinismus. "Survival of the fittest", nannte es der Evolutionstheoretiker. Fit sein ist alles, sagen wir heute. Das gilt im täglichen Leben genau so wie im Sport. Notfalls wird hier wie dort ein bisschen nachgeholfen.

1. Dezember 2003

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Das Labyrinth und das offene Feld

Wenn wir eine Wahl treffen müssen, kommen wir bei einigem Nachdenken nicht um die Einsicht herum, in eine Falle geraten zu sein. Es gibt keine Lösung, also auch keine Erlösung. Das ist kein Fatalismus, sondern eine positive Erkenntnis. Das Dilemma ist die Realität. Etwas Anderes zu glauben, wäre reine Illusion.

So, wie jeder Versuch, ein Problem oder eine Krise zu lösen, noch tiefer in das eine oder die andere hinein führt, sind alle Versuche, aus dem Labyrinth einen Ausweg zu finden, zum Scheitern verurteilt. Das Labyrinth hat einen Eingang und ein Zentrum, aber unzählige Bifurkationen, Umwege und Sackgassen. Es gibt keinen Plan, keine Wegbeschreibung, keine Abkürzungen, keinen Notausgang, nur die Unentscheidbarkeit bei jeder fälligen Entscheidung. Alle Wege sind möglich. Welcher richtig und welcher falsch ist, lässt sich nicht im Voraus sagen.

Das Labyrinth ist der perfekte Ausdruck des Dilemmas und ein Abbild unserer existenziellen Lage, der wir nicht entkommen, nicht können und nicht sollen.

Alles ist Durcheinander, Chaos, Konfusion, Unübersichtlichkeit. Die gleiche Sache, die selben Begriffe, aber viele Versionen. Das Labyrinth erfordert keine Strategie, Methode, Planmässigkeit, sondern im Gegenteil noch mehr Labyrinth, wie das Chaos noch mehr Chaos verlangt, bis die Verwirrung und Verzweiflung nicht mehr zu überbieten ist.

Darin liegt eine grössere Chance, als es aussieht, weil wir dann keinen Weg mehr suchen, der nur ein Flucht- oder Ausweg sein kann, und wir uns der Situation stellen müssen. Dann erst und keinen Augenblick früher ist der Moment gekommen, um einen System- und Paradigmenwechsel vorzunehmen und die logozentrische, vernünftige Ordnung aufzugeben. Es ist der Moment, wo die Befreiung aus den Zwängen und Verstrickungen des binären, nach Eindeutigkeit strebenden, gläubigen Denkens (Entweder-oder statt Weder-noch) in Reichweite gerückt ist.

Das heisst: Dem Dilemma entkommen wir nur, wenn wir aufhören, ihm zu entkommen zu wollen. Jedes systematische, zwangsläufige Vorgehen führt noch tiefer in die Ausweglosigkeit. Jede Alternative ist falsch, das ist der Kernpunkt. Also dürfen wir uns gar nicht auf die Spielpartie einlassen, zu der wir eingeladen oder genötigt worden sind. Soll mitspielen, wer will. Wir sagen: Nein!

Das Dilemma zu akzeptieren heisst infolge dessen, es als das zu nehmen, was es eigentlich ist: als Unruhe, Antrieb, Energie, Motivation, als Aufforderung zu einem listigen Denken, einem Denken der Aufhebung. Ein Lachausbruch kann die Grenzen nieder reissen und den Weg frei machen. Erst wenn diese Einsicht zur Lebens- und Entscheidungsgrundlage gemacht wird, kann es eine Antwort geben, die in Wirklichkeit doch wieder keine ist – so wie auch diese Kolumne keine gibt, keine geben kann. Gibt es aber keine, kommen zuletzt alle Antworten in Frage, alle sind denkbar.

Wir sind nicht mehr an die falschen Voraussetzungen gebunden und finden uns mit einem Mal auf einem weiten, offenen Feld wieder.

17. November 2003

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Ohne Öffentlichkeit keine Demokratie

Die Urne ist eine schlechte Bezeichnung für den Ort, an dem wir bei Wahlen und Abstimmungen unsere Stimme abgeben: Als würde die Demokratie zu Grab getragen.

Aber hoch war die Beteilung eigentlich noch nie gewesen, ausser in Spitzenzeiten politischer Erregung. Die allgemeine Enthaltung wird gern bedauert, aber das ist eine heuchlerische Klage. Es ist gut denkbar, dass die sogenannte staatsbürgerliche Abstinenz gewissen Kreisen gelegen kommt, die in der Demokratie nur einen Störfaktor des Geschäftsablaufs sehen.

Wenn das Stimmvolk an die Urne gerufen wird, ist das Meiste bereits entschieden. Viel zu viel ist durch das Vernehmlassungsverfahren im Voraus nivelliert worden, so dass Zustimmung oder Ablehnung zu einer Formsache wird beziehungsweise zu einer Form von Scheinlegitimation. Kommt hinzu, dass es bei den meisten Sachfragen unmöglich ist, dafür oder dagegen zu sein. Es ist unerheblich. Die richtigen Fragen werden gar nicht gestellt.

Wir haben es mit einer schwachen Demokratie zu tun. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste ist wahrscheinlich die schleichende sogenannte Privatisierung, die das Verschwinden der Öffentlichkeit zur Folge hat, also den Raum, in dem die Demokratie praktiziert wird. Die demokratische Organisationsform war in der Vergangenheit an den Nationalstaat gebunden, im Zeitalter der Globalisierung werden die Entscheidungen auf einer anderen Ebene getroffen, wo die Stimme des Stimmbürgers nicht hingelangt. Zum Beispiel fallen Fragen, bei denen es an das Lebendige geht, in den Zuständigkeitsbereich der World Trade Organisation. Wenn zum Beispiel die europäischen Staaten beschliessen, aus gesundheitlichen Gründen kein US-amerikanisches Hormon-Beef mehr zu importieren, verstossen sie gegen WTO-Vereinbarungen und drohen die transatlantischen Vieh- und Fleischhändler mit Sanktionen. Die doktrinären Interessen der Wirtschaft haben Priorität, und der Markt beherrscht die Menschen, nicht umgekehrt.

Was von der Demokratie dann noch übrig bleibt, hat sich zu einer Staatsform entwickelt, in der die Reichen leichtes Spiel haben, Steuerentlastungen für sich zu erlassen (damit sie nicht nach Freienbach SZ oder auf die Bahamas dislozieren; damit sie Arbeitsplätze "schaffen", die sie dann abbauen, um neue Vergünstigungen zu fordern, und so weiter) und die dabei entstehenden Folgen von den Armen getragen werden.

Manchmal kommt es auch vor, dass demokratische Mehrheitsbeschlüsse durch übergeordnete Anschauungen (Menschenrechte, Glaubensfreiheit und so weiter) verhindert oder aufgehoben werden, manchmal macht das Gebot der politischen Korrektheit es unmöglich, über umstrittene Fragen eine notwendige, kontroverse Auseinandersetzung zu führen.

Als Folge dieses schleichenden Demokratie-Abbaus und des dadurch bedingten Verlusts an sozialem Ausgleich entsteht ein politisches Vakuum, in dem sich neue Ventile und bedenkliche Formen der Konfliktaustragung bilden: Obstruktion, soziale Verwahrlosung, Krawalle, Aggression, offene Gewalt.

Keine verheissungsvollen Aussichten. Wir werden uns eines Tages noch mit Wehmut an die schönen Tage der Demokratie erinnern.

3. November 2003

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Verschiedene Wertvorstellungen in ein und derselben Welt

Bevor wir über Toleranz im Islam reden, sollten wir nachlesen, was im Koran über die Ungläubigen und Nichtgläubigen steht. Als einem Nichtgläubigen läuft es mir dabei eiskalt den Rücken hinunter. Auch die häufige Berufung auf den Jihad ist eine Provokation anderer Religionen (unter Jihad werden im "Kleinen Islam-Lexikon" des Verlags C. H. Beck die "zulässigen Formen des Krieges zur Erweiterung des islamischen Herrschaftsbereichs oder dessen Verteidigung" verstanden). Diese sogenannten Heiligen Kriege sind genau so unerträglich wie die amerikanisch-christlichen "Jihad"-Formen ("God bless America").

Der Respekt, den wir dem Islam, bedingt durch die Zuwanderung aus moslemischen Ländern, entgegen bringen sollen, leistet dem Obskurantismus Vorschub. Viele islamische Lebens- und Denkformen stehen in krassem Gegensatz zu den Wertvorstellungen, für die wir in Europa 250 Jahre lang gekämpft haben: Aufklärung, demokratische Rechte und Freiheiten, die noch lange nicht vollendet sind, Säkularisierung (Laizismus), die einer der Gründe für die zivilen und sozialen Fortschritte ist, ferner die Arbeitsrechte sowie ganz besonders die individuellen Lebensentwürfe, also die Idee der Selbstverwirklichung, zu denen auch die Frauenrechte gehören. Genau genommen, hat diese Entwicklung mit Sokrates‘ bohrenden Fragen eingesetzt. Damals hat das Wissen angefangen, den Glauben zu ersetzen.

Das alles sind Errungenschaften, die es wert sind, verteidigt zu werden, und für die wir unsererseits Anerkennung erwarten müssen.

Dabei weiss ich natürlich, dass es einen Unterschied zwischen Islam und Islamismus gibt und der Islam keine monolithische Religion ist. Die Anhänger des Islam, die wie alle Menschen ihrem Glauben nachgehen, sind kein Problem, die lautstarken Vertreter eines integristischen Islam jedoch sind sehr wohl - zum Beispiel, wenn sie unter Berufung auf den Koran Überzeugungen vertreten und Rechte fordern, die im Widerspruch zu den hier geltenden stehen. Zuletzt unterliegt alles, was im Koran steht, der Interpretation, aber zuletzt kann auch die zunehmende Radikalisierung des Islam nicht übersehen werden. Die Angst der Moslem vor einer Verwestlichung ihrer Religion ist wahrscheinlich genau so gross wie die unsere im umgekehrten Fall, aber sie ist vielleicht auch eine Folge der multikulturellen Entwicklung, von der die ganze Welt betroffen ist.

Am liebsten würde ich es mit dem tunesischen Islamwissenschafter Jussef Sedik halten ("Le Monde", 2. Oktober 2002), der im Koran griechische Wurzeln entdeckte und es ablehnte, ihn als Grundlage für jegliche Legislation heranzuziehen. Vielmehr sollte der Koran wie ein Stück Weltliteratur, wie die "Odyssee" oder Martin Heidegger, gelesen werden - oder mit einer "Lust am Text", die der französische Denker Roland Barthes meinte, als er vorschlug, jedes literarische Werk als Baukasten zu begreifen, mit dem man etwas unternehmen kann.

Die Stellungnahme von Sedik zeigt, dass im Islam der gleiche Kampf zwischen Konservativen und Fortschrittlichen geführt wird wie überall auf der Welt. Diese Erkenntnis könnte eine geeignete Voraussetzung sein, um vieles besser zu verstehen.

20. Oktober 2003

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ECHO
"Es gab eien Miteinander von Islam und Christentum"

Der ferne Blick auf den Islam zeigt die gleichen Widersprüche, die auch im Christentum auszumachen sind. Das Wesen jeder Religion ist immer auch vom Unwesen der Religion begleitet. Eine Tragik jeder Religionsgeschichte. Die Rückfragen von Aurel Schmidt kann ich teilen. Nachdenklich macht mich aber, dass das Wissen um die griechische Philosophie über den Islam zum Christentum kam. Nachdenklich macht mich, dass es ein Miteinander von Islam und Christentum in der Zeit vor der Eroberung der neuen Welt in Spanien gab, das durch die christliche Seite beendet wurde. Vielleicht kann der Islam auch zu einer Kritik der Aufklärung führen, die nicht hinter die Aufklärung zurückführt, aber die Scahtten der Aufklärung sichtbar macht und überwinden hilft.

Xaver Pfister
Basel

 

Kritik und offene Sprache dienen der Klärung

Die Vereinigten Staaten geben zur Zeit kein vorteilhaftes Bild von sich. Der Krieg gegen den Irak hat eine Arroganz der Macht offenbart, die einem das Gruseln beibringen könnte. Das "Project für a New American Century" spricht unverblümt von der Entschlossenheit, die amerikanische Hegemonie über den gesamten Planeten zu erstrecken, wenn nötig mit militärischer Gewalt, zur Not auch nur mit wirtschaftlichen Mitteln. Die liberalisierten Märkte liegen im Interesse der Vereinigten Staaten. Letzter Akt in diesem Theater: In der Unesco hat die US-Delegation sich gegen eine Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt gewehrt, mit der Begründung, Kulturgüter seien als wirtschaftliche Produkte zu betrachten, die nicht aus dem Prozess der Handelsliberalisierung herausgenommen werden dürften.

Abgesehen davon haben die Vereinigten Staaten keinerlei politische Vision anzubieten. Es erübrigt sich für sie auch. Als "einzige verbliebene Weltmacht" können sie dem Rest der Welt ihre Bedingungen diktieren. Niemand wird dagegen etwas ausrichten können, aber die Reaktionen fallen dafür auch entsprechend aus.

Allein bin ich mit dieser Einstellung nicht. Amerikanische Autoren wie Noam Chomsky, Gore Vidal oder Michael Moore sind exponierte Kritiker der Vereinigten Staaten. In jüngster Zeit sind verschiedene neue Bücher von anderen, ebenfalls amerikanischen Autoren, unter anderem von Michael Mann und Benjamin R. Barber, erschienen, die die Rolle der Solo-Weltmacht untersuchen und mit einer unglaublichen Faktenfülle ein beklemmendes Bild davon geben.

Amerika hat mein Denken tief geprägt. Von Henry David Thoreau (1817-1862, Autor des Buchs "Walden") und dem amerikanischen Transzendentalismus, von Jack Kerouac und der Beat-Generation, vom Komponisten Charles Ives und dem Jazz-Musiker Charly Parker habe ich bleibende Anregungen empfangen, und was die amerikanische Unabhängigkeit von 1776 betrifft, so bildet sie ein vorbildliches Ereignis der Demokratie-Geschichte. Man muss also deutlich differenzieren zwischen dem geistigen, stets eine Spur anarchistischen Amerika und den auftrumpfenden Vereinigten Staaten, wie sie in der Pennsylvania Avenue 1600 in Washington repräsentiert werden und von denen Benjamin R. Barber sagte, sie befänden sich "auf Kollisionskurs mit der Geschichte".

Sind also Einwände gegen die Vereinigten Staaten anti-amerikanisch? Wie denn nur! Eine offene Sprache dient der Klärung, ist eine demokratische Errungenschaft und macht vor keinen nationalen Grenzen Halt.

Das Gleiche gilt übrigens auch für die Kritik an der illegalen israelischen Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten, die nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Auch hier müssen Unterschiede gemacht werden, zum Beispiel zwischen Ariel Sharon und den 27 Militärpiloten, die kürzlich ihren Dienst verweigerten, weil sie in den Angriffen auf zivile Ziele in den Palästinensergebieten illegale und amoralische Aktionen erblickten. Mit diesen Piloten bin ich ebenso verbunden wie mit den amerikanischen Autoren, die die Vereinigten Staaten auf ihre Fehlhandlungen aufmerksam machen.

6. Oktober 2003

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ECHO
"Amerika hat auch eine starke kritische Seite"

Lieber Aurel, als jemand, der, wie Du weisst, in Kalifornien lebt, ist mir zum Glück bewusst, dass es nicht nur das Amerika der Bush-Administration gibt. Ich habe inzwischen sogar grosse, und wie ich glaube, berechtigte Hoffnung, dass im Januar 2005 ein anderer Präsident eingeschworen werden wird.

Marin County, wo ich lebe, hat - ähnlich wie Basel-Stadt oder Baselland - eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen des Landes. Doch sieht man hier sehr häufig Autos, vom dicken Mercedes bis zum kleinen Chevy, mit Stossstangenklebern, die Aussagen haben wie: "Impeach Bush", "No War", "Bring the Troops Home" oder einfach "No W" in Anspielung auf des Präsidenten mittleren Initialen.

Umfragen haben auch ergeben, dass die Bush-Regierung eine steil nach unten zielende Akzeptanz-Kurve hat. Zugegeben: Es brauchte lange, bis sie gebrochen ist, aber ist hier so etwas erst einmal in Bewegung geraten, so ist es oft nur noch sehr schwer aufzuhalten.

Vergangene Woche ist bei einem Konzert des Rockmusikers Bruce Springsteen in der New Yorker Region etwas Interessantes vorgefallen: Springsteen, der in den USA sehr beliebt ist und sein Konzert dem Gedächtnis der Opfer des 11. Septembers widmete, hat in der Ansage zwischen zwei Titeln auf einmal gesagt, dass der Präsident abgewählt werden müsse, da er dem Land schade! Dann hat er in die Gitarre gegriffen und mit dem nächsten Stück angefangen: "Born in the USA". Das ist hier durch die Presse gegangen, leider hat man davon nichts in den Schweizer Medien gelesen oder gehört, die waren nämlich mit den Stones im Letzigrund beschäftigt, und dass der Mick Jagger einen Satz in Zürideutsch radebrechte.

Und damit komme ich zum wichtigen Punkt: Die Presse in der Schweiz berichtet fast ausschliesslich über die oft sehr fragwürdigen Entscheide und Massnahmen der Bush-Regierung. Leider hört man wenig über die andere Seite. Dazu gehören viele Bürgerinitiativen, Gemeinden und Städte, Politiker auf lokaler und Bundesebene, kritische Medien, Intellektuelle, wie die von Dir gennanten Michael Moore, Noam Chomsky oder Gore Vidal, aber auch Schauspieler wie Tom Hanks oder Sean Penn.

Um diese Kräfte zu unterstützen, wäre es wichtig, wenn sie auch ausserhalb der USA zur Kenntnis genommen und entsprechend Aufmerksamkeit erhalten würden. So würden sie weiter Auftrieb erhalten und an Bedeutung gewinnen. Diese internationale Zustimmung wäre wichtig im Hinblick auf den 2. November 2004. Noch bleibt also Zeit!

Zum Schluss noch ein Seitenwechsel: übers Internet schaue ich mir recht regelmässig die SF DRS Nachrichten an. Der Bericht über den SVP Parteitag unter dem Motto "Mobilmachung" hat mir kalte Schauer den Rücken hinuntergejagt. Meiner Meinung nach ein schweizerisches Gegenstück zu den Kräften, die hier Bush unterstützen.

Jean-Pierre Salzmann
San Anselmo, Marin County

Deregulierung ist das Problem, nicht die Lösung

Jedes Gemeinwesen ist auf eine Ordnung angewiesen, ohne die es nicht auskommen könnte. Diese Ordnung ist weder eine Verfügung, noch eine Gnade oder ein Zufall, sie wird vielmehr von den Beteiligten vereinbart. Sie entscheiden selbst, wie sie ihre Verhältnisse einrichten wollen.

Es kann für diese Regelung infolge dessen, je nach Entscheid, verschiedene Formen geben: rigide, lockere, solche mit einem Minimum und andere mit einem Maximum an Einschnitten und Verordnungsdichte. Thomas Hobbes, einer der frühen Theoretiker des Bürgertums, war zum Beispiel überzeugt, dass "der Mensch des Menschen Wolf" sei und das gesellschaftliche Zusammenleben daher strengen Regeln unterworfen werden müsse, Einschränkungen des Einzelnen also unumgänglich seien, damit soviel Freiheit wie möglich für alle erhalten werden kann. Was dem Einen dabei vielleicht entgeht, kommt am Ende der Allgemeinheit zugute. So haben alle etwas davon.

Heute sind wir Zeugen, wie der Rückwärtsgang eingelegt wird und vor allem in wirtschaftlichen und sozialen Bereichen Bestrebungen unternommen werden, die Regeln und Vereinbarungen, die seit dem Manchester-Kapitalismus sukzessive eingeführt wurden, wieder zu lockern und abzuschaffen - mit weitreichenden Folgen für Gesellschaft und Öffentlichkeit und erst noch im Namen der Freiheit. Als ob Freiheit ohne relativierenden Rahmen denkbar wäre!

Der Staat, bei Hobbes eine unentbehrliche Einrichtung zum Wohl der Allgemeinheit, wird heute als ärgerliches Hindernis angesehen. Zuviele Auflagen, Gesetze, Vorschriften, bürokratische Behinderungen. Das kann die wirtschaftliche Tätigkeit lähmen, zweifellos, aber mindestens ebenso richtig ist das Umgekehrte: Restriktionen regen die Innovation an und mobilisieren die Initiative. Sie erhöhen den Druck und die Wirkung.

Seitdem vor etwa einem Jahrzehnt die Weltwirtschaft in Schwierigkeiten geraten ist, wird versucht, mit Lockerungen der geltenden Bestimmungen eine Lösung zu finden. Wenn es aber gerade umgekehrt wäre? Wenn die angestrebte Deregulierung die Ursache wäre, dass die Wirtschaft es mit immer grösseren Problemen zu tun bekommt, und nicht die Folge?

Es bedarf keiner besonderen Hellsichtigkeit, um zu erkennen, dass es den Menschen dort gut geht, wo Ökonomie, soziale Sicherheit und Ökologie in einem harmonischen Verhältnis stehen, aber nicht gut geht, wo Unordnung, Ungleichheit, Unsicherheit herrschen, das heisst Armut, Ungerechtigkeit, Willkür. So gesehen sind soziale Leistungen, Arbeitsrechte, Schonung der Umwelt, Produktehaftung und so weiter eine gute Voraussetzung für eine gedeihliche Entwicklung und kein Nachteil, wie dies gern unterstellt wird. Arme Länder sind dagegen arm, weil sie gerade keine sozialen Errungenschaften aufweisen.

Ordnung ist mithin ein zivilisatorischer Fortschritt, Unordnung jedoch die Rückkehr zu den wölfischen Verhältnissen, die Hobbes überwinden wollte.

Bei alledem habe ich noch gar kein Wort über die schädlichen Folgen der Deregulierung im mentalen Bereich gesagt, zum Beispiel was die um sich greifende alltägliche Gewalt betrifft. Aber das ist ein anderes Thema.

22. September 2003

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ECHO
"Es wird zu grossen Umwälzungen kommen"

Philosophisch-politische Äusserungen können wichtig sein, um das Fundament einer ethischen Gesellschaftsordnung zu erschaffen. Wie Aurel Schmidt festhält, muss eine soziale Struktur vorherrschen, damit auch Wohlstand entstehen kann. Und dennoch ist seine Analyse sehr schweizerisch ausgefallen, wenngleich nicht beabsichtigt. "Seitdem vor etwa einem Jahrzehnt die Weltwirtschaft in Schwierigkeiten geraten ist ..." verdeutlicht dies klar. Die Schweiz hat seit zehn Jahren Stagnation und Rezession zu beklagen. Länder wie Estland und Polen hatten jährliche Wachstumsschübe nahe der 10-Prozent- Grenze, ebenso der zukünftige Wirtschaftsgigant China. In solchen Ländern erhöhte sich nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern es wurden auch demokratische Strukturen aufgebaut und die Rechtsstaatlichkeit eingeführt. Die Schweiz hat seit Jahrzehnten eine solidarische Lohnpolitik betrieben, welche auch jene Schichten in der Gesellschaft am Wohlstand teilhaben liess, die in Nachbarsländern existenziell unten durch müssen.

Mit der Personenfreizügigkeit inklusive den neuen EU-Ländern wird nicht nur die schweizerische Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt. Es wird zu grossen Umwälzungen kommen, denen wir uns stellen müssen. In Deutschland arbeiten Busfahrer bereits für 7.70 Euro. Wohin führt dies, wenn Slowaken und Polen in grossem Stil auf den Arbeitsmarkt drängen? Oder sollen wir mit Mindestlöhnen die sozialen Errungenschaften verteidigen?

Berlins SPD-Bürgermeister Wowereit hat es auf ARD bei "Christiansen" vor Tagen eindrücklich gesagt: "Es ist eine Illusion zu glauben, man könne mit einem Reformstreik den Status quo in der Gesellschaft halten wollen. Ansonsten werden wir von aufstrebenden Ländern in Mitteleuropa längerfristig platt gedrückt." Wenn wir die bevorstehenden Veränderungen nicht in den Griff kriegen in einer Balance von Reform und sozialen Absicherung, dann kann in Europa ein neuer Nationalismus bevorstehen. Es wäre Populismus, den Leuten glauben zu machen, man könne einfach alles so belassen, und beim folgenden Konjunkturanstieg kämen wieder goldene Zeiten. Aufgabe von Politikern wäre es nun, neben ihrer Lobbypolitik auf diese Sachverhalte
hinzuweisen.

Karl Linder
Basel

 

Den Abfall für die Anderen

In den USA wird die Produktivität laufend gesteigert, gleichzeitig sind seit Anfang Jahr 200‘000 Stellen beseitigt worden. Fast jedes Mal, wenn von "Restrukturierungen" die Rede ist und Entlassungen gemeint sind, jubelt die Börse. Die UBS hat im ersten Halbjahr 2003 einen Gewinn von 2,853 Milliarden Franken ausgewiesen. Möglich war das, weil das Kosten-Ertrags-Verhältnis auf 74,7 Prozent gesenkt werden konnte. Das heisst auf Deutsch: Die Zahl der Mitarbeiter wurde reduziert und das Geschäftsergebnis auf diese Weise verbessert.

Bei der CS Group wies das erste Halbjahresergebnis 2003 einen Gewinn von nur 1,9 Milliarden Franken auf, was nicht ganz den Erwartungen entsprach, obwohl auch hier Arbeitsplätze eliminiert wurden – je nach Zählung 5'956 oder 3'913. Aber nicht alles ist aussichtslos. "Hoffnungsvoll stimmt, dass Grübel und Mack in ihrem Bemühen um mehr Profitabilität nicht nachlassen", schrieb der wilde Kommentator der "Basler Zeitung" am 6. August 2003. Wie beruhigend, dass sich Grübel und Mack, die Direktoren, nicht auf die faule Haut legen werden, sondern nach weiteren Geldquellen suchen wollen.

Zu diesen Nachrichten sollten ein paar Fragen gestellt werden dürfen. Liegen solche Gewinne im Rahmen des Vertretbaren, oder kann und muss hier von Fällen und Formen transsylvanischer Bluttransfusion gesprochen werden? Und wenn Produktivität und Gewinne durch Entlassungen beziehungsweise durch Senkung der Kosten gesteigert werden, verhält es sich dann nicht so, dass die Arbeitslosenversicherung die unternehmerischen Gewinne mit bezahlt?

Natürlich werden keine direkten Zahlungen vorgenommen, aber wenn Ökonomie eine Kommunikationsform ist, was in einem assoziativen Sinn ja wohl zutrifft, dann hat das Eine mit dem Anderen beziehungsweise alles mit Allem zu tun, und was auf der einen Seite anfällt, entfällt auf der anderen. In jedem Closed Circuit ist das so. Thermodynamik, mein lieber Watson!

Wer also nicht dem ökonomischen Jargon verfällt, sondern nur ein bisschen kreativ denkt, wird verstehen, dass es beinahe unsichtbare Formen von Umverteilung sind, mit denen wir es hier zu tun haben.

Kürzlich konnte man lesen, wie tief die Löhne bei McDonald‘s sind. Dadurch ist es möglich, Hamburger und die berühmten Freedom Fries zu verbilligen. Aber das heisst auch: In gewisser Weise subventioniert das schlecht entlöhnte Personal die Konsumation der Kundschaft. Bei den Fluggesellschaften das Gleiche: Um die Flugpreise für die Passagiere attraktiv zu gestalten, muss das Personal Lohneinbussen hinnehmen. Nicht anders polstern die kränkelnden Krankenkassen das Geschäftsergebnis der pharmazeutischen Industrie.

Wenn Strassen gebaut werden, damit sinnlose Transporte ausgeführt werden können, wenn Abfälle entsorgt und Umweltschäden behoben werden müssen – stets herrscht das gleiche Prinzip vor. Die Einen haben einen Vorteil, die Anderen das Nachsehen. Nach der alten, immer noch gültigen Devise, die besagt, dass die Gewinne privatisiert und die Kosten sozialisiert, das heisst den Anderen, der Allgemeinheit, aufgebürdet werden. Wie die Beispiele zeigen.

8. September 2003

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Von der republikanischen zur Zuschauergesellschaft

Es sieht so aus, als hätten wir uns von der republikanischen Gesellschaft verabschiedet und den Weg zur Zuschauer- und Voyeurgesellschaft eingeschlagen. Das eigene Leben wird nicht mehr selber gestaltet, sondern aus zweiter, dritter, vierter Hand gechartert. Wir nehmen am Leben fremder Berühmtheiten teil, die es nur gibt, weil wir ihnen nachstellen, jedoch sicher nicht gäbe, wenn wir uns mehr mit uns als mit ihnen beschäftigen würden.

Die permanente Queen, Prinzen und Prinzessinnen, ein Autorennfahrer, der nach jedem Sieg eine Flasche Champagner zum Ejakulieren bringt, ein Tennisspieler mit präraffaelitischem Erlöser-Look, drei singende Girlies aus Texas, die ausser ihren PR-Agenten niemand kennt – sie alle und viele andere sind reine Medienprodukte zum Zweck der exklusiven Lebensverschönerung .

Kylie ist angeblich zu geil für die Engländer. Von der englischen Prüderie habe ich schon gehört, aber wer ist Kylie? Francis F "gibt Vollgas", warum? Und wer ist dieser Francis F? Eine Fernsehfrau verliebt sich in einen Arbeitskollegen, wie aufregend. Aber was geht mich – uns – das an? Ein DJ begibt sich nur noch mit seinem Yogalehrer/Anlageberater/Sexualtherapeuten auf Tournee, ein Model, dem eine halbe Mittelmeerinsel gehört, hat geheiratet, heimlich, mit 500 Gästen, und ein Fussballer bestreitet, dass seine Freundin schwanger sei. Ist sie es nun, oder ist sie es nicht? Das müsste leicht herauszufinden sein, dafür gibt es Tests. Aber der Klatsch ist viel aufregender als die Tatsachen, die so sind, wie sie sind, und nicht anders, also selbstevident.

Für das soziale Phänomen der Anteilnahme für Andere gibt es verschiedene mögliche Interpretationen. Menschen – auch Erwachsene – brauchen Märchen. Und verfallen daher auf die Fabrikation fiktiver und zirkulärer Vorbilder. Das Kino lebt von dieser Typologie der Identifikationsangebote, die vielen Heftchen am Kiosk erfüllen die selbe Funktion. Wie einst die griechischen Götter sich alles erlauben konnten, was den gewöhnlich Sterblichen untersagt war, so bedienen millionenschwere Berühmtheiten aus Sport und Showbusiness (was das Gleiche ist) ihr Publikum mit einem Schein- und Ersatzleben, von dessen Glanz etwas auf diejenigen fallen soll, die nie im Leben Gelegenheit hatten, im Rampenlicht zu stehen.

Das ist die weiche Interpretation. Nach einer anderen mit mehr Biss halten sich die Menschen Stars, Champions, Big Shots, öffentliche Persönlichkeiten, Traumpaare, Pop-Titanen, Idole und so weiter wie Haustiere oder Heinzelmännchen, die sie auf Schritt und Tritt begleiten, in ihre Badezimmer verfolgen, ihre Kleiderschränke durchwühlen und schliesslich mit Haut und Haaren verschlingen. Das Blut wird ihnen bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt, natürlich symbolisch, dann werden sie fallen gelassen – eine Art Vampirismus.

Es ist die Rache der Zukurzgekommenen, die sich für ihr bedeutungsloses Leben entschädigen, in dem sie Götzenbilder in die Welt setzen, die sie ausrotten, und auf diese Weise vernichten, was ihnen selber entgeht.

Wie anders liesse sich das massenhafte Bedürfnis nach ebenso imaginären wie virtuellen Projektionen erklären?

25. August 2003

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Wenn nur die Anderen endlich einsähen

Die Anderen sollen endlich vorwärts machen, bezahlen, abfahren, den Wecker stellen, sich ein bisschen Mühe geben, den Finger heraus nehmen und nicht so herum stehen, als würden sie auf Godot warten.

Sie sollen etwas mehr ergebnisorientiert arbeiten, endlich zur Einsicht kommen, dass es so nicht (beziehungsweise nur so und nicht anders) weitergehen kann, mit dem Blödsinn machen aufhören, etwas mehr Solidarität zeigen, den Bus nehmen, mit dem Krach aufhören, sich nicht einbilden, es müsse alles nach ihrem Kopf gehen, das nächste Mal besser aufpassen, sich nicht immer zuerst bedienen (Bescheidenheit ist eine Zier), die Fahrspur einhalten, den Fahrplan konsultieren, das Fahrgeld bereit halten, die Fachliteratur studieren, den Rasen nicht betreten, die Packungsbeilage lesen oder eine Fachperson fragen.

Es wäre auch an der Zeit, dass sie aufhören würden, immer nur fremden Menschen zu helfen (beziehungsweise fremden Menschen etwas mehr zu helfen, weil sie mehr darauf angewiesen sind als wir). Sie sollen auch den Dreck weg machen, den Mistkübel an den richtigen Ort stellen und das Fenster nicht immer aufmachen (beziehungsweise nicht immer zumachen beziehungsweise es nicht immer auf und zu machen, weil es enorm stört).

Überhaupt wäre es wünschenswert, wenn die Anderen sich das nächste Mal besser überlegen würden, was sie erreichen, wenn sie so tun, wie sie getan haben, und sich ein bisschen beweglicher zeigen, geistig und organisatorisch. Auch ein bisschen einschränken könnten sie sich, das würde nichts schaden. Sie sollen mit dem Salz sparsam umgehen, nicht soviel Butter nehmen, beim Blumengiessen etwas besser aufpassen, dass das Wasser nicht so spritzt, und die Quoten und Vereinbarungen einhalten, ebenso die Geschwindigkeitsvorschriften.

Besonders den Platz vor dem Haus und das Treppenhaus sollen sie sauber machen, wenn die Reihe an ihnen ist. Ausserdem wäre es sehr erwünscht, wenn sie endlich lernen würden, die Tür nicht nur anzulehnen, sondern richtig ins Schloss zu ziehen, bis es Klick macht, und sich daran halten würden, ohne dass man es ihnen jede Woche erneut in Erinnerung rufen muss.

An den Anderen läge es auch, gelegentlich etwas grosszügiger, spontaner, vernünftiger (Zutreffendes ankreuzen) zu sein, das Geld nicht so zum Fenster hinaus schmeissen, sich die Sache noch einmal genau überlegen und tun, was man von ihnen erwartet. Vor allem sollen sie uns kein X für ein U vormachen, vor der eigenen Tür wischen, regelmässig die Haare schneiden gehen (damit sie etwas gepflegter aussehen), nicht soviel Bier trinken, wenn nötig zugeben, dass sie sich geirrt haben, dem Ernst der Situation gerecht werden, nicht immer an der unpassenden Stelle lachen, husten, herum rutschen, mit dem Stuhl wackeln, dafür den Küchentisch abräumen, den Deckel der Erdbeerkonfitüre richtig zumachen, das Tischtuch ordentlich falten, den Abguss sauber reinigen, sich für die Versäumnisse entschuldigen, das Abonnement rechtzeitig erneuern und nicht meinen, dass die Anderen – also wir – es für sie tun.

Das hätte nämlich gerade noch gefehlt!

23. Juni 2003

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Wenn man zwei und zwei zusammenzählt

Gipfel wie von Davos, Genua oder Evian sind mediale Spektakel, die dort betriebene Kabinettspolitik ein Affront gegen das demokratische Ideal. Wenn die mächtigsten Führer der Welt zusammen kommen, werden Menschen vertrieben, Städte verbarrikadiert und der Ausnahmezustand ausgerufen. Nur in Hochsicherheitstrakten können die sogenannten Führer, die sich wie Superstars beim Frühstück abfeiern lassen, ihre fadenscheinigen, zu nichts verpflichtenden Absichtserklärungen über Wohlstand, Gerechtigkeit und Frieden von sich geben. Als ob sie nicht längst Zeit gehabt hätten, etwas zu tun, wenn es ihnen darum gegangen wäre. Sollte die Entwicklung weiter wie bisher verlaufen, werden die Schlafzimmer der Mächtigen in den noblen Tagungsorten die letzten freien Flecken auf der Erde sein.

Dabei haben die Führer der Welt, wenn es nach den Worten des Generalstabschefs Christophe Keckeis geht, doch nur den innigen Wunsch, "eine bessere Welt anzudenken", von der sie in ihren abgeschirmten Refugien aber keine grosse Ahnung haben können. Wie die Wirklichkeit aussieht, wird an der sozialen Unrast in Frankreich, Deutschland, Österreich sichtbar. Sogar in der Schweiz werden die Vorschläge über die Rentenanpassung - gemeint ist: Rentenkürzung - abgelehnt, die Bundespräsident Pascal Couchepin vorgeschlagen hat. Der gleiche Couchepin, der mit dem bemerkenswerten Satz "In der Republik haben immer noch die Chefs das Sagen und nicht die Untergebenen (subordonnés)" geglänzt hat. Was Keckeis‘ "bessere Welt" angeht, wird sie sehr autoritär sein müssen, um durchgesetzt werden zu können. Die Mehrheit will sie nicht. Nicht in dieser verordneten Form.

Fortschreitende wirtschaftliche Globalisierung auf der einen und sich weltweit ausbreitende Sozialkrise auf der anderen Seite stehen in einem umgekehrt reziproken Verhältnis, auch wenn die Hausdiener der Wirtschaft gern behaupten, dass der Grund für die Krise eher in einem Mangel als einer Überdosis an Globalisierung liegt. Dabei würde es genügen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Die Front rückt jeden Tag ein Stückweit näher.

Die Rendite ist die neue Rationalität. Die Talsohle ist überwunden, die Börse gerät langsam wieder in die Hausse-Zone, die Reichen, denen es wieder ein bisschen besser geht, erhalten immer weiter gehende Steuervergünstigungen, die Armen dagegen schauen in die Luft. Die Löhne der Swiss-Angestellten sollen gekürzt werden, aber vorher erteilt sich das Kader noch generös einen Bonus in Höhe von mehreren Monatslöhnen. Der Managing Director Commerce der Swiss lässt sich jeden Tag vom steuergünstigen Wollerau zur Arbeit kutschieren. Macht 12‘000 Franken im Monat für die Swiss. Dass derlei "üblich" ist – genau darin liegt der Skandal.

Natürlich haben die Swiss-Löhne und "Evian" nichts mit einander zu tun – ausser dass ihnen die selbe Ideologie zu Grunde liegt. Und jetzt soll auch noch der "Ausverkauf der Heimat" für die Belebung der Wirtschaft gut sein!

Mehr und mehr führen die emphatischen Reden sich selbst ad absurdum. Womöglich geht die Entwicklung in die falsche Richtung, und es wäre an der Zeit, Kurskorrekturen anzudenken.

9. Juni 2003

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Erst der Rasenmäher, dann der Rasen

Was war zuerst: Die Krankheit oder der Arzt? Die Antwort ist einfach, aber nur deshalb, weil sie sich auf eine automatische Denkweise stützt. Natürlich die Krankheit. Die Menschen waren krank, dann kam einer, der Fähigkeiten besass, um die Krankheit zu heilen: vom Schamanen zum Hausarzt.

Meinen wir. Weit gefehlt! Es verhält sich genau umgekehrt. In Labrador sagte mir einmal ein alter Innut-Indianer: "Wir waren unser Leben lang gesund. Aber seitdem die kanadische Regierung uns einen Arzt zugeteilt hat, sind wir jedes Mal krank, wenn wir zu ihm gehen."

Wenn wir die landläufigen Meinungen, die seit unvordenklichen Zeiten niemand angezweifelt hat, nicht umkehren und auf den Kopf stellen, werden wir nie verstehen, was gemeint ist.

Was war also zuerst: Der Rasen oder der Rasenmäher? Selbstverständlich der Rasenmäher. Seitdem die Rasenbesitzer ihr schönes, teures Gartengerät angeschafft haben und als Statussymbol vorweisen, werden die Rasen wie noch nie gepflegt.

Was war zuerst: Der Stau oder die Strassen, die ihn beheben sollen? Kein Zweifel, die Strassen, die den Verkehr auf magische Weise anziehen. Immer mehr Strassen, immer mehr Stau.

Genau so ruft der Versuch, die Krise zu meistern, die Krise überhaupt erst hervor. Wenn zu deren Lösung die Löhne gedrückt werden, fliesst kein Geld mehr in den Konsum. Wenn die Gäste ausbleiben, müssen die Restaurants schliessen, aber wenn die Restaurants schliessen, bleiben am Ende die Gäste bestimmt aus.

Der Satz, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt, ist eine Allerweltsweisheit aus der Ökonomie, die so nicht stimmt. Zuerst kommt das Angebot, nach dem sich die Nachfrage richten muss. Nicht anders verhält es sich mit den Medien, die behaupten, sich nach dem Publikumsgeschmack zu richten. Falsch, sage ich. Die Medien erfinden sich ein Publikum, dem sie unterstellen, es verlange jene Beiträge und Sendungen, die sie (die Medien) selber am liebsten produzieren. Das Publikum muss sich dann diese Programme anschauen, ob es will oder nicht. Oder halt abschalten.

Dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage entspricht dasjenige von Ursache und Wirkung . Müssen zuerst die Palästinenser den Terror gegen Israel einstellen oder muss im Gegenteil zuerst Israel die illegal besetzten und besiedelten Gebiete, mit denen sie gegen die Genfer Konvention verstossen, räumen und sich zurückziehen?

In der Türkei hat die türkische Bevölkerung den kurdischen Terror verurteilt, aber vergessen zu sagen, dass ihm eine jahrelange Repression und Demütigung des kurdischen Teils der Bevölkerung durch den türkischen voraus gegangen war. Ist also der sogenannte Terror die Ursache für dessen Bekämpfung oder erzeugt die Bekämpfung des Terrors gespannte Verhältnisse, unter denen er sich ausbreitet? Der sogenannte Terror kann nur dann kritisiert und entschieden abgelehnt werden, wenn seine Voraussetzungen zur Kenntnis genommen werden: Wenn das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht verfälscht und das Eine nicht mit dem Anderen verwechselt wird.

26. Mai 2003

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Aus dem Sprachschatz unserer alten Freunde

Als George W. Bush sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten antrat, erklärte er, das Land mit der "Demut wirklicher Grösse" führen zu wollen. Kurz darauf kündigte er mehrere internationale Verträge auf (Kyoto-, Anti-Personenminen-Protokoll und andere) und widersetzte sich einem Weltgerichtshofs. Gulliver wollte sich von Lilliput keine Vorschriften machen lassen.

In einer anderen Rede erklärte Bush unumwunden, die Welt müsse sich darauf einstellen, dass die Vereinigten Staaten überall ihre Interessen verfolgen würden, "ob es der Welt passt oder nicht". Schon zuvor hatte die Aussenministerin des damaligen Präsidenten Bill Clinton, Madeleine Albright, den Standpunkt der Vereinigten Staaten klar gemacht: "Wir handeln multilaterial, wenn wir können, und unilateral, wenn wir müssen." Unter Bush ist die UNO gerade gut genug, die Interessen Amerikas abzusegnen, sonst geht es auch ohne diesen Segen.

Es genügt, dass die Amerikaner in den Vereinigten Staaten "God‘s own country" sehen. Das befreit sie davon, die realen Verhältnise zur Kenntnis zu nehmen. "Gott hat uns aufgerufen, unser Land zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen", erklärte Bush bei anderer Gelegenheit. Seither reden die Vereinigten Staaten von "democracy" und "freedom" und meinen die amerikanische Möblierung der Welt. Das Beispiel Irak hat gezeigt, wo es entlang geht.

Gewalt ist dabei in jeder Beziehung gerechtfertigt. Der Südstaaten-Baptist Richard Land liess sich wie folgt vernehmen: "Einen gerechten Krieg zu führen, ist ein Akt christlicher Nächstenliebe. Das Böse muss bestraft, das Gute belohnt werden. Die Zeit für Gewalt ist gekommen." Was bestimmt keine Fragen aufwirft, wenn man weiss, dass das Böse mühelos bei den Anderen zu finden ist.

Aber inzwischen nehmen nur noch die Naivsten zu solcher religiösen Rhetorik Zuflucht. Die neuen Köpfe in Washington nehmen kein Blatt vor den Mund: Nicht um Gut oder Böse geht es, sondern um nackte wirtschaftliche Interessen. Genauer gesagt: um Erdöl, immerhin ein 2'800-Milliarden-Dollar-Business allein im Irak. In den Papieren des "Project for a New American Century" steht im weiteren, dass eine "American dominance"angestrebt wird, "by force of arms across the globe" (mit weltweiter Waffengewalt). Die Informationen dazu sind im Web leicht zu finden. Begriffe wie "Imperialismus" oder "American empire" sind salonfähig geworden, und die Absicht "to dictate financial terms to the entire globe" (der Welt die finanziellen Bedingungen zu diktieren) wird zustimmend vermerkt.

Wer nicht für Amerika Partei ergreift, ist gegen Amerika. Frankreich soll für seine antiamerikanische Haltung zur Kasse gebeten werden. Auch in den USA nimmt die neue Politik immer deutlichere Umrisse an. So musste sich die demokratische Abgeordnete Cynthia McKinney für ihre kritische Haltung vom rechten Journalisten Jonah Goldberg sagen lassen, sie sei "so Ekel erregend wie Arafats drei Wochen nicht gewechselten Unterhosen".

Genau so haben 1933 die Faschisten die Juden beschimpft. Die gleiche Kraftsprache scheint heute wieder in Umlauf zu kommen. Der Kampf hat längst begonnen.

12. Mai 2003

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Die angedrohten Katastrophen

Eine Katastrophe steht bevor. Das Datum ist bereits festgelegt: Der 18. Mai, wenn Schweizer und Schweizerinnen über verschiedene Vorlagen abstimmen werden. Die Nein-Sager haben sich formiert und malen den möglichen Ausgang in den grellsten Farben. Bei Zustimmung würden die Menschen geschröpft, das Klima belastet, die Lichter im wörtlichen Sinn ausgehen und Willkür sich ausbreiten.

Man muss das alles im Einzelnen an Plakatwänden und in Inseraten lesen, um zu verstehen, was auf dem Spiel steht. "Linke und grüne Fundamentalisten wollen unsere Kernkraftwerke abschalten", "Der Atomausstieg kommt uns teuer zu stehen", "Der Atomausstieg belastet das Klima", "40% weniger Licht? weniger Strom?". Soviel zu den beiden Initiativen "Strom ohne Atom".

Was die übrigen angeht, so tönt der Schreckensruf der traumatisierten Gegner nicht anders. "Mehr zahlen, weniger Leistung", "Wieder den Mittelstand schröpfen?", "Echte Entlastungen statt einseitige Umverteilung der Kosten", "Kostenlawine", "Es drohen Willkür und Klagen", "Es werden Symptome bekämpft", "Noch höhere Kosten im Gesundheitswesen?". Die Gesundheits-Initiative gefährdet Arbeitsplätze in Gewerbe und Tourismus (aber immerhin offenbar keine an der Börse), die Behinderten-Initiative "führt zu untragbaren Kosten für KMU". Auch die "gefährliche Lehrstellen-Initiative" muss, wie alles andere, abgelehnt werden.

Die Nein-Sager haben die Parole. Der implizite Droh-Ton in ihrer Propaganda hat etwas zutiefst Undemokratisches. Entweder gibt es Argumente, auf die es ankommt, oder es gibt keine, wobei Achselschweiss gewiss auch nicht als überzeugendes Argument, in diesem Fall für den Atomausstieg, angesehen werden kann. Jede kleinste Veränderung löst in der Schweiz ein Erdbeben aus und stellt ein Hochrisiko für den helvetischen Fortbestand dar.

Könnte man fast meinen. Weniger Strom, weniger Licht? Die für die Stromproduktion zuständigen Leute sollen sich etwas einfallen lassen, dafür werden sie bezahlt. Es werden nur Symptome bekämpft? Ohne Gesundheitsvorlage wird überhaupt nichts bekämpft. Der Atomausstieg belastet die Umwelt? Wie bewegend, diese neue Besorgnis. Aber was ist mit den 300 Generationen, die sich mit dem Abfall herum schlagen müssen?

In einem Inserat hat sich die gegnerische Phalanx dazu hinreissen lassen, von einer "Moratoriums-Lüge" zu sprechen. Dem gegenüber hat sich der liberale Basler Regierungsart Christoph Eymann für "Strom ohne Atom" ausgesprochen. So werde, meint er, die demokratische Mitsprache gefördert, der notwendige Druck auf die Förderung erneuerbarer Energien erzeugt, und es könnten sogar KMU-freundliche Arbeitsplätze geschaffen werden.

Eine neue Einstellung in der Atompolitik lässt sich also aus bürgerlicher Sicht durchaus vertreten. Dächten doch nur mehr Mitglieder der sogenannten bürgerlichen Parteien wie Eymann – man könnte beinahe bürgerlich stimmen und müsste es nicht, aus Mangel an einer besseren Alternative, für die Linke tun.

28. April 2003

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ECHO
"Ärzte schlugen noch selten konkrete Massnahmen vor!"

Herr Géza Kanabé als Arzt sollte es eigentlich wissen, woran unser "Krankheitswesen" auch noch leidet. Es ist aber bezeichnend, dass gerade von Ärzteseite noch selten konkrete Massnahmen zu hören waren. Wahrscheinlich, weil dieser Berufstand mit der Gegenwart sehr gut leben kann! Dies muss leider angenommen werden, da von dieser Seite keine noch so kleine Argumente kommen, um wirklich etwas zu ändern. Wenn nun Änderungen konkret zur Diskussion stehen, werden die meisten Ärzte zu Nein-Sagern. Und dies merkt auch das normale Volk.

Bruno Heuberger
Oberwil BL


"Provokante Vereinfachungen"

Im Gesundheitswesen (wo ich mich fachlich kompetent fühle, mitzureden) scheinen mir die provokativen Vereinfachungen von Herrn Schmidt doch etwas banal zu sein. Ist er einfach für Änderungen damit etwas geschieht oder betreibt er schlicht Populismus von links her? Jedenfalls packt die Gesundheitsinitiative die Gründe der Kostensteigerung bekanntlich auf keine Art und Weise an. Es ist fraglich, ob die postulierten Ziele überhaupt erreicht werden könnten. Es darf nebenbei bemerkt werden, dass ausgerechnet die Basler (Wirkungsort von Herrn Schmidt) überproportional an der Kostensteigerung beteiligt sind und auch dementsprechend von der Subventionierung durch die anderen Kantonen profitieren würden. Es bleibt zu hoffen, dass die Stimmenden die Argumente gründlich analysieren und gegeneinander abwägen.

Géza Kanabé
Saland ZH


"Nein-Sager müssten fairer agumentieren"

Andere Ansichten vertreten - Ja, aber unberechtigte Weltuntergangsstimmung verbreiten - Nein! Wenn die Nein-Sager ernst genommen werden wollen, müssten sie schon fairer argumentieren. Sonst wird's einfach lächerlich, wie die aktuelle Propaganda zeigt. Aber Interessen-Politik hatte noch selten mit Ehrlichkeit zu tun. Sondern nur mit persönlichen, finanziellen und egoistischen Motiven. Warum nur kommt mir gerade jetzt die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln in den Sinn? Eben!

Bruno Heuberger
Oberwil BL


"Demokratie hat auch mit dem Respekt vor anderen Ansichten zu tun"

Aurel Schmidt mag die Volksinitiativen vom 18. Mai befürworten. Das ist sein gutes Recht. Wer aber die Argumente aller Initiativgegner in einen Topf wirft und pauschal als polemisch und undemokratisch verunglimpft muss sich die Frage gefallen lassen, wie's um das eigene Demokratieverständnis bestellt ist. Demokratie hat unter anderem auch etwas mit Pluralismus, dem Recht auf unterschiedliche Meinungen und dem Respekt vor anderen Ansichten zu tun! Die Sorge um die Finanzierbarkeit von Vorlagen beispielsweise zeugt meines Erachtens durchaus von Verantwortungsbewusstsein und vom Willen zu nachhaltigem Handeln - ist das beispielsweise für Herrn Schmidt kein Argument, auf das es ankommt?

Felix Werner
Präsident LDP Riehen/Bettingen
Riehen

Geordnete Verhältnisse und individuelle Freiheit

In einem afrikanischen Dorf bat mich vor Kurzem der protestantische Pfarrer Daniel Dolo inständig, ihm Hefte und ein paar Bleistifte zu besorgen, damit seine Schülern und Schülerinnen Gelegenheit hätten, die Buchstaben, die er ihnen freiwillig in seiner Kirche (fünf auf fünf Meter gross) beizubringen versuchte, einmal selber zu schreiben.

In dem Dorf lebten ungefähr tausend Menschen. Eine reguläre Schule gab es nicht, Sanitätseinrichtungen ebenfalls nicht. Auch Jobs gab es natürlich keine. Aber zahllose Halbwüchsige zwischen fünf und fünfzehn Jahren lebten hier – ohne geringste Perspektive. Wie die Verhältnisse in zehn, fünfzehn Jahren aussehen werden, ist unvorstellbar.

Die von der Unesco zum Weltkulturerbe erhobene Stadt mit der berühmten Lehmbau-Moschee erstarrte im Schmutz und versank in Trümmern. Die Hauptstadt des Landes war ein riesiges Durcheinander, wie man es sich fürchterlicher und erbärmlicher nicht vorstellen kann. Das Mass an Unordnung entspricht dem Mass an Armut und umgekehrt.

Als ich in die Schweiz zurück kam, fand ich alles an seinem Platz - jedenfalls einigermassen. Früher hatte ich oft eine Enge und Engstirnigkeit empfunden, wenn ich lange abwesend gewesen war, jetzt war es anders. Das Chaos mag ja, wie man sagt, kreativ sein, aber ein bisschen Ordnung kann nicht schaden. Wenn alles an seinem Ort ist, erleichtert dies das Leben beträchtlich. Mag sein, dass die Schweizer und Schweizerinnen in einem Museum leben, aber das hat auch eine angenehme Seite. Ich dachte: So haben die Menschen ihr Dasein eingerichtet haben -überblickbar, verlässlich. Alle wissen, woran sie sich halten können. Am meisten wunderte ich mich über meinen Sinneswandel.

Auch im politischen Bereich erkannte ich mit einem Mal viele Vorteile von geordneten Verhältnissen. Die Züge der SBB sind nicht attraktiv, weil sie unbequem sind, mit Verspätung verkehren, aber nicht viel kosten, sondern weil sie im Gegenteil bequem sind und der Fahrplan mehr oder weniger eingehalten wird. Dafür kosten sie natürlich auch etwas. Gesetze und Regulierungen sind keine Einschränkung, sondern eine Voraussetzung für die Freiheit aller im Sinn von Thomas Hobbes‘, bei dem nur in einer Anzahl ebenso notwendiger wie erträglicher Einschränkungen am Ende die Garantie für die bürgerliche Freiheit liegt.

Sozialstaat und Service public sind keine Hindernisse, die so schnell wie möglich abgebaut ("dereguliert") werden müssen, sondern stellen beträchtliche Vorteile und ein Zeichen für den erreichten Wohlstand dar. Nur wo es den Menschen gut geht, kann ein sozial eingestellter Staat sich entfalten. Sinkt der Wohlstand, verliert der Sozialstaat seine Funktion; wird umgekehrt der Sozialstaat eingeschränkt, ist es auch mit dem Wohlstand dahin. Auch die direkte Demokratie und die ausgebauten Volksrechte sind kein Nachteil, sondern im Gegenteil eine gute Voraussetzung für die friedliche Entwicklung. Der Schutz der Welt, in der wir leben, und die Pflege, die dafür geleistet wird, sind keine Preisgabe individueller Freiheiten, sondern ein Gewinn für alle.

Das Zusammenleben der Menschen erfährt keine Einbusse, wenn es gut geregelt ist. Es wird eher eine Spur menschlicher.

14. April 2003

Die zweite Front des Irak-Kriegs

Nach dem Gesetz des antizyklischen Verhaltens müsste ich es mir versagen, über den Krieg der USA gegen den Irak zu schreiben, und ein anderes Thema wählen. Aber offenbar gibt es Situationen, wo Logik und Konsequenz nichts mehr ausrichten und es unumgänglich wird, gegen gute Grundsätze zu verstossen, weil die Ungeheuerlichkeiten erschreckende Ausmasse annehmen. Also der Irak, noch einmal.

Mit Gott an seiner Seite ist Bush in den Krieg gegen das Böse auf der Welt gezogen und hat sich damit auf die Seite der Fundamentalisten und ihrer "Heiligen Kriege" gestellt. Wenn Bush sich auch noch darauf beruft, dass es seine verfassungsmässige Aufgabe als Präsident der Vereinigten Staaten sei, Schaden vom amerikanischen Volk abzuwenden, dann kann er am Ende damit alles rechtfertigen. Der amerikanische (inzwischen wegen Interessenkonflikten zurück getretene) Berater Richard Perle hat schon laut darüber nachgedacht, dass die USA noch viele Kriege auf fremden Territorien führen müssen, bis Frieden eingekehrt sei. Der allerdings kann nur eine Pax americana sein, ein amerikanisches Diktat. Bisher hat der Irak jedenfalls keinerlei Gefahr für die USA dargestellt, die USA aber haben sich umgekehrt als konkrete Bedrohung für den Irak erwiesen und – wer weiss – für die ganze Welt. Saddam muss weg. Aber dann müsste auch Bush, der nicht ganz demokratisch gewählte US-Präsident, weg, im Interesse der Sache.

Es ist schon schlimm genug. Reden wir von der Kriegsfront in den Vereinigten Staaten, wo die gouvernementale Bevormundung ihr Unwesen treibt, eine medialer Informations-Konformismus herrscht, Kontrolle, Überwachung und Bespitzelung zunehmen, Fälschungen als Beweise gelten, Alliierte geködert und gekauft werden und so weiter. Es ist ein totalitäres Klima, das sich ausbreitet hat.

Dass es freiwillig und im Namen der Freiheit soweit gekommen ist, macht die Sache keinen Deut besser. Und wenn Bush zur Zeit eine Zustimmung von 76 Prozent verzeichnen kann, wie sollte man da nicht an die Ex-DDR denken, nur mit dem Unterschied, dass die Verhältnisse dort damals ein Witz waren, das heisst eine verlogene, aber auch von niemandem ernst genommene Realität, während sie in den Vereinigten Staaten heute eine radikale Realität, eine nicht wegdiskutierbare Tatsache, ist, also eine fürchterliche Verirrung, ein abscheulicher Wahn.

Mag sein, dass die Vereinigten Staaten an ihrer eigenen Heuchelei und Hysterie zu Grunde gehen werden, weil zuviel blinde Zustimmung, falsche Rhetorik und massenhafter Patriotismus auf der einen und zu wenig kritische Auseinandersetzung auf der anderen Seite keine Zukunft haben. Aber der Schaden, der an der Demokratie, an der Entfaltung der Zivilgesellschaft, am Gebrauch und an der Glaubwürdigkeit der Sprache, an der Austragung kontroverser, differenzieller Meinungen entstanden ist, wird nicht ohne Folgen bleiben können.

Es ist nicht abwegig, davon auszugehen, dass in Zukunft neue Grenzen gezogen und sich neue Allianzen bilden werden, quer durch die bestehenden Formationen. Wenn es eine neue Weltordnung gibt, dann zeichnen sich ihre Umrisse erst jetzt ab, 14 Jahre nach dem Fall der Mauer.

31. März 2003

Vom Sinn und der Funktion des Zitierens

Zitate sind nicht nur Dekorationen eines Textes, sondern auch deren Ergänzung und Erweiterung. Häufig stellen sie sich jedoch als Ärgernis heraus, weil zwei (der Zitierende und der Zitierte) etwas wissen, was dem überfallenen Leser entgangen ist. Der Einwand, der die Sache vertuschen soll, lautet dann meistens: "Können Sie nicht mit Ihren eigenen Worten sagen, was Sie meinen?"

Mit der sogenannten eigenen Meinung ist es aber so eine Sache. Keine Meinung ist je etwas Eigenes, Eigenständiges, das in der eigenen Küche präpariert worden ist. Jeder einzelnen ist eine andere vorausgegangen, deren Variation, Fortsetzung und Vervollständigung sie ist oder zu der sie sich unter Umständen in Widerspruch stellt. Friedrich Nietzsche meinte, dass jeder Dichter eine "Fortdichter" sei; Martin Walser hat in seiner unnachahmlich ironischen Art festgestellt: "Ich habe keine eigene Meinung. Bei jeder Meinung weiss ich, woher ich sie habe."

Die eigene Meinung ist daher eine grosse Täuschung. Wir stecken alle tief in den Diskursen drin, mitten in der Menge und Masse des Gesagten, die wir wie Bauklötze bewegen, umschichten, neu arrangieren.

Wie Zitate durch ihre Funktion zu verstehen geben sollen, ist jeder Text auch ein Bekenntnis, gewissermassen ein "Bündnis", wie der französische Philosoph Gilles Deleuze gesagt hat. Ich bin mit meiner Meinung nicht allein, wenn ich etwas sage. Irgend ein Autor hat schon etwas Gleiches gesagt beziehungswiese schon Vorarbeit geleistet, und ich schliesse mich an, verbünde mit mit ihm und mache gemeinsame Sache mit ihm. Zusammen vertreten und verstärken wir eine Auffassung gegen eine andere.

Wenn ich über die Politik der Vereinigten Staaten schreibe, erinnere ich mich zum Beispiel, was der Amerikaner Noam Chomsky schon zum Thema geschrieben hat; wenn ich die Globalwirtschaft in ihrer heutigen Form kritisiere, berufe ich mich auf die Untersuchungen des kanadischen Ökonomen Michel Chossudovsky. So werden Verbindungen, Anschlüsse, Zusammenhänge hergestellt, und auf diese Weise entstehen Meinungen wie Netze, die sich durch Verknüpfungen ausbreiten. Alles Wissen ist daher in gewisser Weise wie ein organischer Prozess oder eine Population zu verstehen.

Nicht anders geht es in den Wissenschaften zu, in denen unter Zuhilfenahme von Zitaten und Fussnoten ein Text abgesichert, aber auch in seinem Kontext situiert werden soll. Wissenschaftliche "Revolutionen" und Paradigmenwechsel sind eher selten; häufiger sind neue Entdeckungen und Erfindungen als vorläufiger Endpunkt einer über lange Zeit hinweg vorausgegangenen Entwicklung. Quantenphysik, Kosmologie, Genetik sind zum Beispiel Konglomerate von Erkenntnissen und gesammeltem Wissen. Viele Menschen haben daran einen Beitrag geleistet, der im Einzelnen nicht immer genau sichtbar ist, aber mit zum aktuellen Wissensstand geführt hat.

Das heisst, dass die Gesamtheit des Wissens laufend ergänzt und erweitert wird. Abgeschlossen ist sie zu keinem Zeitpunkt. Was manchmal wie neu aussieht, ist nicht selten ein neuer Ausschnitt oder die Neuauflage in veränderter Form von etwas, das es schon gab.

17. März 2003

Wer spart, schadet den andern

Es ist schwer vorstellbar, wie die Unternehmer ihre Verantwortung wahrnehmen, auf die sie sich kühn berufen, um ihre Superlöhne zu rechtfertigen, wenn ihnen nicht mehr einfällt als die Einsicht "Wir müssen sparen". Wenn die Geschäfte wie heute schlecht gehen, müssen sie beweisen, wie es um ihre Kreativität und Kompetenz steht. In den fetten Jahren sind sie (nicht alle, aber viele) bequem geworden und haben etwas zuviel von Wirtschaftsfreiheit gesprochen, wenn sie sich das Verhalten von kleinen absoluten Herrschern zugelegt haben.

Das macht sich jetzt auf fatale Art und Weise bemerkbar. Plötzlich fehlen ihnen Ideen, wie sie auf die Herausforderungen der Zeit reagieren sollen. Wenn sie nur das eigene Unternehmen im Blick haben, das sie über die Runden zu bringen versuchen, ist das eine Form von Kurzsichtigkeit und stellt sich am Ende als kontraproduktiv heraus, auch wenn es vielleicht im Moment für das investierte Kapital einen Atempause bringt. Zu oft wird ausser Acht gelassen, dass die Wirtschaft ein systematisches Ganzes bildet, in dem alle Teile auf alle anderen einwirken und alle von einander abhängig sind.

Wenn gespart werden muss, besteht heute eine der ersten Massnahmen meistens in der Entlassung eines Teils des Personals. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass ein Unternehmen sich mit Bedauern zu diesem Schritt entschliesst, als ob der Arbeitsmarkt eine Pumpstation oder Manipuliermasse wäre und es eine Volkswirtschaft ohne Volk geben könnte.

Niemand kann annehmen, dass immer mehr Arbeitsuchende eine belebende Wirkung auf die Wirtschaft ausüben. Mit gutem Recht kann man sich daher die Frages stellen, ob Entlassungen ein sinnvoller Ausweg aus der von Rezession geplagten Wirtschaftssituation sind oder nicht im Gegenteil der Grund für die Verschlechterung der Lage. Es bedarf keiner besonderen Klugheit, um zu verstehen, dass jede Entlassung ebenso wie jede Lohnsenkung oder jede Preis- oder Prämienerhöhung die Voraussetzung bildet, dass Verhältnisse sich ausbreiten, die weitere Einsparungen und Entlassungen unumgänglich machen.

Der Ausdruck "sparen" suggeriert weit blickendes, vorsorgendes, haushälterisches Verhalten, führt aber in Wirklichkeit zu einem anderen Ergebnis. In einer erfolgreichen Ökonomie muss das Geld zirkulieren, damit alle etwas davon haben. Wird der Geldfluss abgeklemmt, droht das System auszutrocknen. Wer daher spart, also Geld nicht ausgibt, sondern es zurück behält, der enthält es den Anderen vor, denen es dann wiederum fehlt. Am Ende komme dann auch ich nicht darum herum, mich wider Willen ebenfalls einzuschränken und selber zu sparen. Wenn zum Beispiel die Zeitungsredaktionen meine Artikel nicht mehr kaufen, weil sie den Spargang eingeschaltet haben, leiste ich mir weniger oder einen billigeren Wein zum Essen, so dass der Weinhändler zum Beispiel gezwungen ist, sein Zeitungabonnemente abzubestellen und zuletzt wieder die Zeitungsverlage weitere Sparmassnahmen vorsehen müssen.

So wird die Lage in universitären Seminaren und Kaderschmieden zwar kaum dargestellt und es ist wohl in Wirklichkeit auch etwas komplexer, aber seine paradoxe Richtigkeit hat es damit trotzdem auf sich.

3. März 2003

ECHO
"Durch antizyklisches Verhalten könnte mehr erreicht werden"

Was nun auch Aurel Schmidt herausfand, predigen die Gewerkschaften schon seit Jahren. Immer wieder machen die Politiker und die Wirtschaft den gleichen Fehler, dass man sich bei anhaltenden wirtschaftlichen Flauten praktisch tot spart. Natürlich meistens auf Kosten anderer. Dabei sollten die massgebenden Kreise doch endlich zur Kenntnis nehmen, dass durch ein antizyklisches Verhalten viel mehr erreicht würde. Sogar bürgerliche Ökonomen sind heute immer öfters dieser Ansicht. Nur ist mit einer Durchsetzung dieser Strategie nicht so schnell ein politischer Blumentopf zu gewinnen. Sparappelle, wie sie z.B. immer und immer wieder eine SVP predigt, verfangen leider immer noch und sind viel populistischer. Und viele andere Parteien laufen hinterher. Makaber ist die Feststellung, dass meistens diejenigen zu den Verlierern gehören, die einen solchen Zauber noch unterstützen, nämlich die gewöhnliche, arbeitende Bevölkerung.

Bruno Heuberger
Oberwil BL

 

Wie wir essen, so denken wir

Es ist ein kapitaler Fehler der Grossverteiler, Nahrungsmittel immer billiger anzubieten. Sie handeln angeblich im Namen der Konsumenten, aber in Wirklichkeit gegen deren Interessen, weil sie durch ihre Strategie dazu beitragen, dass aus Nahrungsmitteln Industrieprodukte werden. In dem Mass, wie der ökonomische Druck auf die Landwirtschaft zunimmt, sinkt die Qualität der Produkte und gelangen billige Erzeugnisse in den Verkauf. Der französische Bauernführer José Bové und sein Mitstreiter François Dufour haben in einem Buch gezeigt, was auf dem Spiel steht ("Die Welt ist keine Ware", Rotpunkt Verlag).

Anstatt die Preise zu senken, wäre es vorzuziehen, die Qualitätswerte heraufzusetzen. Dann dürften die Nahrungsmittel auch etwas mehr kosten. Ein Ei aus integrierter Produktion für 60 Rappen ist wertvoller als ein Ei aus einer sogenannten Legefarm, das nur 20 Rappen kostet. Wenn die Konsumentenschaft weniger kauft und dafür mehr Qualität bekommt, geht für sie die Rechnung auch dann auf, wenn sie für die einzelnen Waren etwas mehr als üblich bezahlt. Das ist immer noch besser, als den gleichen Betrag für wertlose Ware auszugeben.

Die Folgen der in die Enge getriebenen industriellen Nahrungsmittelerzeugung weist viele negative Folgen auf: Rinderwahnsinn, hormonhaltiges Fleisch, "Rindfleischkriege" zwischen Europa und den USA, Lebensmittelskandale aller Art, landwirtschaftliche Überproduktion beziehungsweise Prämien für Flächenstilllegungen. In Holland sind Tierfabriken in grossem Stil geplant, in denen Fleisch wie am Fliessband produziert werden soll. Den Rest besorgt der globalisierte Markt mit seinen bürokratischen Normen für Nahrungsmittel.

Wir treten in das Zeitalteralter von "Frankenstein Food" ("Newsweek") ein: Fast, Designer, Functional, Convenience Food und so weiter. Wie kann das gut für den Magen sein, durch den die Liebe hindurch gehen soll? Ich meine nicht, dass wir von heute auf morgen zur makrobiotischen oder vegetarischen Ernährungsweise übergehen sollen, auch wenn sie ihre Meriten haben mag. Es genügt, sinnvoll zu handeln und auf die Qualität und die Natürlichkeit der Produkte zu achten. In Frankreich geht das Wort von der "malbouffe" und "sale bouffe" ("Frass") um, auch wenn im Land der Haute cuisine Fast Food sich rasend schnell ausbreitet. Eine ökonomische Frage kann das nicht sein, eher ist es eine des Lifestyle. Fast Food ist sackteuer im Verhältnis zu dem, was es ist. Ungesund ist es ebenfalls. Ein tristes Salatblättchen macht niemals die viel zu vielen Kohlehydrate und Fette wett, erklärt aber, warum die Menschen immer dicker werden.

Es geht also um die Esskultur schlechthin. Wenn ich ein paar Äpfel koche, vielleicht mit etwas Zimt, und mit etwas Yoghurt esse, ist das ein bescheidener und doch vollkommener Genuss. Wie einer oder eine isst, so denkt er oder sie. Wir können wissen, was wir essen, wenn wir wollen. Überlegt, ausgewogen, auch mit Mass, besonders auch mit Bedacht essen ist ein Akt des Widerstands, der Anfang autonomen Handels und damit nicht zuletzt ein Schritt auf dem Weg zur Lebenskunst.

17. Februar 2003

Bush jun. und der Buhmann der Welt

Absturz der Raumfähre "Columbia" hin oder her - noch selten hat sich eine Regierung dermassen in eine Sackgasse manövriert wie die Regierung Bush. Entweder weiss sie es nicht besser oder sie treibt ein doppeltes Spiel. Beides ist möglich. Bei den militärischen Vorbereitungen in der Golfregion und der Art, wie Saddam Hussein zum Buhmann der Welt aufgebaut worden ist, zu dem Osama Bin Laden und der Mann in Pjöngjang vergleichsweise eine Statistenrolle spielen, ist ein bevorstehender Krieg gegen den Irak kaum noch zu stoppen. Bush muss ihn führen. Wenn es sein muss, werden die Gründe sich dafür finden lassen, und seien es ein paar leere Geschosshülsen. Der Vorwurf "mangelnder Kooperation" des Irak oder die Behauptung, dass Saddam Hussein "uns betrügt", würde schon ausreichen.

Nicht dass Saddam eine superbe Figur wäre. Trotzdem hat das erdrückende Ungleichgewicht zwischen dem Irak und den USA eine bittere Note. Sie zeigt, wie kriegerische Interventionen sich zu einem Mittel der Politik entwickelt haben. Mit ihrer militärischen, überwachungstechnologischen, logistischen, propagandistischen Überlegenheit können die USA ihre Interessen überall in der Welt durchsetzen. Das ist ein neuer Aspekt globaler Politik, an den man in Zukunft denken muss. Wie ehemals Lateinamerika, ist heute die ganze Welt zum Hinterhof der Vereinigten Staaten geworden, die ihren Anspruch nicht mehr zu rechtfertigen brauchen und jede Opposition, bald auch schon jeden Vorbehalt als Terrorismus betrachten. Die neue amerikanische Arroganz hat jetzt sogar das "alte" Europa zu spüren bekommen.

Längst geht es nicht mehr um drohende Massenvernichtungswaffen, für die die USA das Primat beanspruchen. Sie besitzen und entwickeln solche Waffen in ausreichendem Mass. 1982 wurden nach einer dpa-Meldung in den USA unter einem Colin Gray Studien über die hinnehmbaren Folgen eines "länger anhaltenden und gewinnbaren Atomkriegs" der USA gegen die frühere Sowjetunion ausgearbeitet. Heute wehren die Vereinigten Staaten sich beharrlich gegen ein Abrüstungs-Protokoll, mit dem die Verbreitung von B- und C-Waffen verhindert werden soll, weil es auch sie selber betreffen würde.

Hinter dem amerikanischen Jihad gegen den designierten Schurkenstaat Irak verbergen sich andere Interessen. Kürzlich hiess es im Pentagon, der Irak stelle einen "Härtetest für die Demokratie im Nahen Osten" dar. Verkürzt kann die Formel "Saddam muss weg" daher nur heissen: Demokratie ist das, was die USA definieren. Eine neue Regierung in Bagdad kann nur eine sein, die den USA ergeben ist, in jeder Beziehung. Zu denken, dass es um etwas Anderes als das irakische Erdöl ginge, wäre naiv und unvereinbar mit der "Ockhams Rasiermesser" genannten erkenntnistheoretischen Regel, nach der von verschiedenen Annahmen die einfachste gewöhnlich die zutreffende ist. Die Aneignung fremder Erdölreserven mit kriegerischen, zur Not auch anderen Mitteln ist einfacher als die Entwicklung neuer, zukunftsträchtiger Technologien, erst recht, seitdem die Anliegen der Erdöl-Connection in der Administration des ehemaligen Erdöl-Managers Bush jun. offenes Gehör finden. So fügt sich wirklich alles wunderbar zu einem überzeugenden Bild zusammen.

3. Februar 2003

Die Phraseologie von Davos

Das World Economic Forum (WEF), das dieses Jahr vom 23. bis 28. Januar in Davos abgehalten wird, ist ein Anlass, dessen Widersprüche kaum zu überbieten sind - in mehrfacher Hinsicht. Das WEF will eine "platform for leaders to address global issues" sein, aber der Anlass wird in einen Bunker verlegt, und die Teilnehmer schützen sich hinter Stacheldraht vor der Öffentlichkeit, mit der sie nur über ausgewählte Mediendiener verkehren. Davos wird dicht gemacht. Das ist keine besonders überzeugende demokratische Manifestation, nicht zuletzt, weil die Wirtschaftsvertreter keinen demokratischen Auftrag haben. Dafür könnte "Davos" ein erhellender Hinweis darauf sein, was heute unter dem neuen, reichlich diffusen Begriff Governance verstanden wird. Die Welt wird angeblich wertneutral, aber aus dem sicheren Hinterhalt regiert.

Wenn das Sicherheitsdispositiv mit möglichen Gefahren erklärt wird, ist das nicht einmal unrealistisch. Die Ursachen müssen freilich vor allem darin gesucht werden, dass die Erwartungen des überwiegenden Teils der Menschen nicht mehr mit Massnahmen gelöst werden können, die in den hermetischen Konferenzräumen in Davos oder zum Beispiel an den G8-Teffen in Kananaski in der abgeschiedenen kanadischen Wildnis, fern von Demonstranten, verhandelt werden. Die befürchteten Krawalle haben ihren realistischen Gegenpol in der strukturellen Gewalt der sogenannten Finanzmärkte beziehungsweise der liberalisierten Weltökonomie wie in der medialen Gewalt der konformen öffentlichen Meinung, wenn man etwa an die Kriegsstimmung denkt, die wegen "Davos" verbreitet wird. Man kann die Hysterie durchaus auf die Spitze treiben und dann sagen, die Anderen seien daran schuld. Aber wer das prophezeit und beschwört, dem fällt es am Ende zu.

Dass mit mehr Globalität mehr Wohlstand erreicht würde, wie an den verschiedenen Gipfel hartnäckig behauptet wird, ist von Autoren wie Pierre Bourdieu, Michel Chossudovsky oder Naomi Klein ("No Logo!") klar in Abrede gestellt worden, ohne nennenswertes mediales Echo. Daher die Verlagerung der Opposition auf die Strasse. Die Leader reden von Fortschritt durch Ökonomie, meinen aber ein bestimmtes Governance-Modell, das sie der Welt gegen deren interesse verpassen. Die nicht hinterfragbare Phraseologie von "Davos" ist es, die Ohnmacht auf der einen und Wut und Widerstand auf der anderen Seite hervorruft.

Mit der nur ökonomischen interpretation der Welt wird die Entwicklung nicht nur in die verkehrte Richtung gelenkt, sie erzeugt auch eine falsche Sprache. Die schönen Bekenntnise ändern am Zustand der Welt nichts. Vielleicht glauben die Leader sogar, was sie verlautbaren, aber die Sales Officers und die Systemzwänge sorgen dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das Verhältnis von verbalem Anspruch und veritabler Leistung der "Herren der Welt" (Bourdieu) entbehrt jeglichen Masses. Dafür läuft "Davos" auf ein Propaganda-Event für die Verbreitung bestimmter Ideen und die Verschleierung von deren wahren Gründen hinaus und wird ein pompöser Beitrag an das Missverhältnis von Realität und Rhetorik geleistet, das alle Bedenken gegen die Veranstaltung bestätigt.

20. Januar 2003

ECHO
"Die Verlierer sind nicht in Davos"

Aurel Schmidt hat Recht. Wenn ein so genanntes "Weltforum" so vor der Öffentlichkeit abgeschottet werden muss, kann etwas nicht stimmen mit dem Thema. Die Organisatoren des WEF sollten mal ehrlich über die Bücher gehen. Aber wer schlachtet schon seine goldene Gans. Und die Verlierer der ganzen Geschichte sind bestimmt nicht in Davos!

Bruno Heuberger
Oberwil BL

 

Denken und kritische Dichte

Es wäre gut, wenn wir uns nicht in ein "Entweder-oder"-Korsett zwängen liessen, wie es Ideologen und Dogmatiker vertreten, die nur das Eine oder das Andere kennen, aber nichts dazwischen. So werden nur Standpunkte vertreten, die der Sache selten auf die Sprünge helfen. Es geht dann zum Beispiel entweder um den Markt oder um staatliche Intervention, um das Individuum oder die Gesellschaft, um universelle oder relative Werte, um die Festung Europa oder ein offenes Europa, und so weiter.

Dieses Denken geht meistens am Ziel vorbei. In Wirklichkeit ist es in vielen Fragen unmöglich, eine Meinung, das heisst eine einzige Meinung, zu haben. Ausserdem kommt es auch meistens gar nicht darauf an; das Meiste ist weder schwarz noch weiss, sondern grau. Selbst richtige Aussagen können daneben treffen. Sollte es aber doch darauf ankommen, kann die Alternative nur "Sowohl-als auch" oder noch besser "Weder-noch" (weder Zustimmung noch Ablehnung) lauten. Das macht den Weg frei für eine weniger aufgeregte, eifernde, weniger apodiktische Auseinandersetzung.

Bedeuten kann das freilich nicht, dass die Wahrheit oder, weniger pathetisch, die Antwort in der Mitte liegt. Die sogenannte Ausgewogenheit kommt einem Stillstand, wenn nicht einer Kastrierung des Denkens gleich. Vielmehr geht es um etwas, das in der Physik mit kritischer Dichte bezeichnet wird. Gemeint ist damit ein Zustand, in dem sich die involvierten Kräfte in Schach halten.

In der Kosmologie stehen die Kräfte der Gravitation und diejenigen der Expansion in Abhängigkeit zu einander. Gäbe es nur Gravitation, würde alle Materie zu einem dichten Klumpen zusammen gedrückt, gäbe es andererseits nur die expansiven Kräfte, würde alles zu wackeln anfangen und auseinander fallen. Aber das Zusammenspiel beider Kräfte generiert die Welt in einem zwar heiklen, aber zugleich erträglichen und bekömmlichen Mass. Wohl halten auch die Extreme sich noch in einem kritischen Gleichgewicht. Je mehr Extremismus, desto mehr Gegenextremismus. Das aber ist dann das Ergebnis einer voraus gegangenen Erhitzung und Fehlentwicklung.

Nun muss man sich natürlich die Frage stellen, ob physikalische Gesetze auf gesellschaftliche, politische oder psychologische Bereiche übertragen werden können. Wenn man sich jedoch überlegt, dass der Beobachter den gleichen Gesetzen unterliegt, die für die beobachtete Situation gelten, der Beobachter also ein Teil der Versuchsanordnung ist, dann muss auch der Denkende ein Teil des Denkens sein, und man kommt nicht um die Einsicht herum, dass die Kriterien, die an einem Ort gelten, auch an allen anderen anwendbar sein müssen. Denkprozesse und physikalische Vorgänge unterliegen damit den gleichen Voraussetzungen.

In diesem Sinn wechselwirkt jede Meinung mit jeder anderen und wird das Denken in Hochspannung versetzt, aber nicht entschieden oder abgeschlossen. Was zuletzt zählt, ist ein weiterführendes Denken. Man könnte auch sagen: ein Denken in Übereinstimmung mit den Gesetzen der kritischen Dichte. Oder einfach ein kritisches Denken.

23. Dezember 2002

Die neue Realität

Der Optimismus hat noch nie so gute Zeiten gesehen wie heute. Als ABB den Abbau von 10‘000 Stellen ankündigte, stieg die Notierung der ABB-Aktien um zwei Zähler. Die Börsenkurse am Ende der Fernsehnachrichten haben das Amen in der Kirche ersetzt wie das Geld die Religion. Inzwischen wird der Abbau bei ABB mit 50'000 Stellen angegeben, weil man sich in Zukunft vermehrt auf die "Kerngeschäfte" konzentrieren will, wie es so besorgt heisst. Um wieviele Zähler muss die Börse in diesem Fall rein rechnerisch gesehen also weiter klettern? Ach, was für einen fabelhaften Aufschwung könnte die Wirtschaft erleben, wenn sie nur von Soziallasten, Umweltschutz-Auflagen und so weiter befreit würde!

Abgesehen davon ist alles auf dem besten Weg. Die Bestimmungen für den Elfenbeinhandel werden gelockert. Die Presse warnt davor, den Buschmann in Washington zu unterschätzen und hebt seine vielen sympathischen menschlichen Seiten hervor. Kritik an den Vereinigten Staaten sieht alt aus. Die Väter waren Revoluzzer, die Söhne und Töchter achten vor allem auf die Rendite. Das ist der neue Realismus. Die Zeiten ändern sich schnell. Wer das Tempo nicht mithält, fällt vom Karren. Wer wird sich darüber aufhalten! Es ist der Preis für den Fortschritt.

Steuerhinterzieher und Korrupte haben es satt, diffamiert zu werden. Drögeler demonstrieren für die Liberalisierung des Hanfmarkts. Ein Wissenschafter will ein menschliches Wesen klonen und sich über den Gesetzgeber hinweg setzen. Schluss mit den ethischen Einwänden und Behinderungen! Sanft und geduldig treiben wir der Katastrophe entgegen, die, wenn sie eintrifft, in juristisch korrekter Form abgehalten wird, ungestört, unter Polizeischutz. Freie Fahrt für Draufgänger! heisst das. Autodiebe dürfen in Zukunft nur mit deren Zustimmung verfolgt und gestellt werden, sonst werfen Jung-Redaktoren der Polizei Brutalität und Masslosigkeit vor. In Silvio Berlusconis italienischer Bananenrepublik suchen die Kriminellen sich neuerdings ihre Richter selber aus. Dass die Angeklagten auch die Löhne der Richter bezahlen, kommt vielleicht noch. Wer es nicht versteht, für seine Dummheiten Andere verantwortlich zu machen und massive Schadenersaz-Forderungen zu stellen, hat mangelhafte Kenntnisse der Gesetze. Die neuen Top-Zyniker kommen einmal strahlend daher, das andere Mal lassen sie sich als Opfer und Märtyrer bedauern. So oder so: Sie schwimmen immer obenauf.

Konsum ist an die Stelle der Kultur getreten. Der Publikumsgeschmack richtet sich nach den Kapitalinteressen und ist dessen Ergebnis. Die Sprache wird neu reguliert: Angriff heisst jetzt Verteidigung ("Präventivschlag"), Ideologie Markt, Bevormundung Toleranz und so weiter. Den Profiteuren geht es gut, zum Beispiel kriminellen Reedereien. Die Ölpesten sind finanziell verkraftbar. Es besteht keine Veranlassung, das Geringste an den bestehenden Verhältnissen zu ändern. Wer jetzt frohlockt, hat es geschafft.

Der neue 4WD-Optimismus, den man in jüngster Zeit um sich greifen sieht, hat einen opportunistischen Turn genommen.

9. Dezember 2002

Seitenwechsel eines Sprach-Szenarios

Im Krieg gegen den Terror hat der Irak eine neue Runde gewonnen. Monatelang hatte Saddam Hussein eine harte Linie gegen die USA eingeschlagen und darauf bestanden, dass der störrische Diktator in Washington zu einer nachprüfbaren Einhaltung seiner Abrüstungsverpflichtungen gezwungen wird. Ohne glaubhafte Drohung würden die USA keine Bereitwilligkeit zeigen, erklärte er.

Der UN-Sicherheitsrat hat nun die Resolution Nr. 1441 verabschiedet und die USA aufgefordert, das Katze-und-Maul Spiel zu beenden, die UN-Inspektoren in das Land einreisen zu lassen und ihnen Zugang zu sämtlichen Einrichtungen, einschliesslich des White House, zu gewähren. Der Druck auf die USA ist damit massiv erhöht worden. Diese erhalten nun eine Frist von sieben Tagen, um die Resolution zu akzeptieren. Als Trostpflaster für die lädierte Würde der Amerikaner wurde die nationale Souveränität der USA bestätigt. Die EU hat Bush bereits zum Einlenken aufgefordert.

Sofort nach Annahme der Resolution drohte Saddam Hussein in Bagdad den USA mit ernsthaften Konsequenzen, wenn sie die Auflagen der UNO nicht in vollem Umfang befolgen und die Entwaffnung nicht einhalten sollten (gemeint ist der den USA untersagte Besitz von Massenvernichtungswaffen). Die USA hätten jetzt eine letzte Chance zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen erhalten und ehrlich mit der UN-Mission zusammenzuarbeiten. Der als weiser Staatsmann posierende Diktator am Potomac treibe ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, falls er falsche Angaben oder Auslassungen machen sollte. Eine "Null-Toleranz"-Politik komme nicht in Frage. Er, Saddam Husein, werde sich auch nicht von einem Angriff auf die USA abhalten lassen, falls die Bedingungen nicht erfüllt würden. Massgeblich seien für ihn nicht die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, sondern allein die vom irakischen Kongress erteilten Vollmachen.

Inzwischen hat Bush zähneknirschend die Resolution akzeptiert: Eine kleine Chance für den Frieden. Zuvor hatte der amerikanische Kommandorat die ungerechte Resolution abgelehnt, da sie nicht nur gegen internationales Recht verstosse, sondern einen Vorwand für einen militärischen Einsatz unter der Leitung des Iraks gegen die USA bilde.

Als Erstes müssen die USA jetzt eine Aufstellung sämtlicher Waffenprogramme vorlegen. Die Saddam-Regierung will sie als Chance benützen, um das Regime in Washington der Lügen zu überführen, falls sie nicht stimmen sollte. Dank modernster Spionagetechnik und dem Zugang zum amerikanischen Luftraum besitzt der Irak ideale Kontrollmöglichkeiten.

Unterdessen gehen die irakischen Militärvorbereitungen weiter, um notfalls mit tödlicher Kraft zuzuschlagen. Auf Kuba, das bereits ein Viertel seines Territoriums zum Sperrgebiet erklärt hat, bereiten sich die ersten 15‘000 irakische Armee-Angehörigen auf ihren Einsatz vor. Bagdad will zunächst die wenig bevölkerten Gebiete im Süden besetzen und hofft auf die Unterstüzung der mehrheitlich farbigen Bevölkerung in den USA. Anschliessend soll die U. S. Army zum Putsch gegen den verhassten Machthaber in Washington ermuntert werden.

PS: Sämtliche Sätze sind der Presse über den amerikanisch-irakischen Konflikt entnommen, nur mit vertauschten Rollen.

25. November 2002

ECHO
"Hinterlistige Begriffsumkehr der Bush-Administration"

Aurel Schmidt trifft den Nagel wieder mal auf den Kopf und entlarvt die hinterlistige Begriffsumkehr im Sprachgebrauch der Bush Administration. George Orwells "1984" und seine "Newspeak" lassen grüssen. Ich gratuliere.

Peter Ensner
Basel

"Einfach saugut"

Einfach saugut, diese Kolumne. Mit wenigen Sätzen die Arroganz der Amis aufgezeigt. Danke Aurel Schmidt.

Dieter Stumpf-Sachs
Basel

 

Jede Aussage ist umkehrbar

Es ist bestimmt einfacher und sinnvoller, wenn die Probleme, die jederzeit auftreten können, nicht mit kriegerischen Mitteln gelöst werden, sondern eine vernünftige Lösung für sie gesucht wird. Das ist ein Satz, mit dem wahrscheinlich alle einverstanden sein können. Aber was heisst "vernünftig" in diesem Zusammenhang? Vernunft ist eine Behauptung, um dem eigenen Standpunkt Recht zu geben. Sie wird voraussetzungslos als bessere Einstellung bewertet, obwohl es ohne Voraussetzung eigentlich nichts geben kann. Auch keine Vernunft. Auch sie muss begründet werden, weil sie sonst in den gleichen Fehler fiele, den Dogmatiker, Ideologen, Idealisten, Schwärmer, Idylliker und andere machen, wenn sie davon ausgehen, dass sie recht haben, ohne sich je zu fragen warum. Die eigene Überzeugung genügt ihnen selbstverständlich, ein Irrtum ist ausgeschlossen, also müssen sie recht haben. Die "Arena" der Schweizer Fernsehens vermittelt eine Vorstellung davon, was dabei heraus kommt. Die schwitzenden Matadoren können es manchmal kaum fassen, dass es noch andere Meinungen als ihre eigenen auf der Welt gibt. Es ist grotesk.

Damit fängt das Dilemma an, das darin besteht, dass jede Aussage anfechtbar, umkehrbar, wiederlegbar ist, auch die vernünftigste. Skepsis oder Distanz sind unverzichtbare Vorbehalte gegen jede Form von Absolutismus. Wie es unter diesen Umständen aber möglich sein soll, noch etwas zu sagen, wenn es darauf an kommt, ein Werturteil zu fällen, ist eine Frage, die bei jedem Satz auftaucht.

Ohne Unterscheidung, Abgrenzung, Bewertung geht es nicht, weil sonst ein Einerlei entstünde, das der Willkür Tür und Tor öffnete. "Schönheit" ist ein Begriff und Schokolade eine Sache, die kaum Probleme aufwerfen, weil keine gravierenden Folgen zu erwarten sind. Ganz anders ist es zum Beispiel im Fall von Gewalt. Ein "Attentäter" oder "Terrorist" für die Einen kann in den Augen der Anderen sehr wohl ein "Freiheitskämpfer" sein, der sich gegen unerträgliche Zumutungen wehrt. Das hängt davon ab, für welche Seite Partei ergriffen wird. Die eigene geniesst dabei in der Regel Priorität. Etwas Anderes wäre übermenschlich.

Es gibt aber noch eine übergeordnete Betrachtungsweise, die nicht von der eigenen Betroffenheit abhängt, sondern den Versuch unternimmt, die Faktoren abzuwägen, die auf dem Spiel stehen. Es geht dabei weniger darum, die "Wahrheit" herauszufinden, die zahlreiche Schattierungen von der Übertreibung bis zur parziellen Unterschlagung kennt, sondern viel mehr darum, einen essenziellen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.

Wenn also jede Aussage umkehrbar ist, mithin auch jede Gegenaussage, dann heisst das nicht, dass es nicht doch möglich wäre, eine zu machen, nur eben nicht mit einem unanfechtbaren Anspruch, sondern im Sinn eines Wagnisses und mit dem Risiko des Fehlurteils. Jede Aussage muss infolge dessen jederzeit falsifizierbar sein. Entfiele diese Voraussetzung, drohte im besten Fall ein Verlust der Vielfalt, der Inspiration, der Lebendigkeit, im schlimmsten ein ideologischer Winter. Aber seien wir uns im Klaren: Eine solche Entwicklung kann heute für viele Menschen eine durchaus attraktive Vorstellung sein.

11. November 2002

Den Letzten beissen die Hunde

Niemand wird sich später herausreden können, nicht gewusst zu haben, was auf der Welt geschieht. Wer will, kann alles wissen, was erforderlich ist, um am Ende nicht aus Unwissenheit oder Ahnungslosigkeit als Mitläufer da zu stehen. Es gehört heute zu einem engagierten zivilen oder einfach anständigen Verhalten, sich über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten und die Konsequenzen zu ziehen. Dazu ist freilich eine kleine Anstrengung unerlässlich.

Ein paar Bücher sollen hier genannt werden, die es Wert sind, zur Kenntnis genommen zu werden. Diejenigen von Noam Chomsky gehören an erster Stelle dazu. Der US-amerikanische Linguist und politische Kritiker weicht von der veröffentlichten Einheitsmeinung ab und nimmt einen unabhängigen Standpunkt ein. Das ist an und für sich noch keine Garantie für eine richtige Beurteilung, aber er kommt auf diese Weise zu Einsichten, die ungewöhnlich sind und nachdenklich stimmen. Seine bohrenden Analysen und seine Unbestechlichkeit haben dazu geführt, dass er in der amerikanischen Öffentlichkeit tot geschwiegen wird, bei seiner Anhängerschaft aber höchstes Ansehen geniesst.

Von Fritjof Capra ist kürzlich das Buch "Verborgene Zusammenhänge. Venetzt denken und handeln – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft" (Scherz, 2002) erschienen. Capra untersucht die Vorgänge in den Zellen lebender Organismen und entdeckt die gleichen Vorgänge auch in gesellschaftliche Organisationen. Davon ausgehend, erhebt er pointierte Einwände gegen die Wirtschaftsführung in ihrer aktuellen Form und zeigt er an konkreten Beispielen, was getan werden kann, um es besser zu machen.

Zahlreiche alternative Institutionen und Forschungsinstitute sind im Begriff, Wege und Methoden zu entwickeln, die (a) innovativ, (b) ökonomisch und (c) auch ökologisch überlegen sind. Wenn beim Auto nur 20 Prozent der erzeugten Energie für den Antrieb der Räder genutzt werden, aber 80 Prozent über Motorenwärme verloren geht beziehungsweise wenn 95 Prozent der erzeugten Kraft das Auto, aber nur fünf Prozent den Fahrer bewegen, dann stimmt etwas nicht. Dann ist das reine Verschwendung. Auf lange Sicht werden aber nur intelligente Verfahren auch ökonomisch sein. Faserverbundwerkstoffe und die Wasserstoffwirtschaft stellen einen qualitativen Fortschritt in Aussicht. Wer früh genug darauf setzt, wird in Zukunft an der Spitze stehen, wer es unterlässt, den beissen zuletzt die Hunde.

Schliesslich ein Wort über den kanadischen Ökonomen Michael Chossudovsky. Er zeigt in seinem Buch "Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg" (Zweitausendeins, 2002) auf, wie unter dem Diktat von Weltbank und Internationalem Währungsfonds staatlichen Souveränitäten eliminiert werden und nationale Ökonomien in die Hände von Grosskonzernen fallen, so dass man ohne Übertreibung von einem neuen Kolonialismus unter dem Zeichen von Globalismus und Welthandel sprechen muss. Der freie Markt, sagt Chossudovsky mit brutaler Direktheit, ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Eine erschreckende Perspektive, die Chossudovsky aber genau und einleuchtend belegt.

27. Oktober 2002

Alte und neue Wege der Information

Die Presse ist heute in eine Krise geraten, auf die sie nicht mehr angemessen reagieren kann. Das hat auch, aber nicht ausschliesslich mit der allgemeinen ökonomischen Situation zu tun, um so mehr dafür mit der Frage, welche öffentliche Aufgabe der Information zukommt. Wenn die Lesefähigkeit weiterhin in dem Mass abnimmt, wie die Pisa-Studie gezeigt hat, dann muss früher oder später auch die Informiertheit leiden, weil nur noch eine Minderheit in der Lage ist zu lesen. Was wir mit zunehmender Deutlichkeit beobachten können, ist die Tatsache, dass Kommunikation nicht mehr auf Grund von Verschriftlichung erfolgt, sondern in zunehmenden Mass auf akustischen Signalen und Messages beruht. Das Milliardengeschäft der Musikindustrie und das Handy sind anschauliche Beispiele. Statt Sprache – die Methode "Urwaldtrommel", Vibrationen, maximal 140 Zeichen, um das Wichtigste mitzuteilen.

Gravierend kommt hinzu, dass der Journalismus keine zeitgemässe Aufgabe mehr besitzt. Er verbreitet konforme Ansichten, die mit minimalen Unterschieden auskommen und von einer überraschenden Dienstwilligkeit zeugen. Die rituelle politische Korrektheit von heute geht gelegentlich bis zur Verfälschung. Indem die Medien sich auf das Publikum berufen, das sie bedienen, entstehen Standardmeinungen, bis zuletzt das dominante Denken die Menschen beherrscht.

Aber es gibt eine Gegenbewegung dazu, und die besteht im Angebot des World Wide Web. In digitalen Nischen entfalten sich neue Orientierungsformen. Zum Beispiel hat Mathias Bröckers kürzlich in einer radikalen Analyse mit dem knappen Titel "11.9." (Frankfurt, 2002) den Anschlag auf die Twin Towers untersucht und eine Menge Ungereimtheiten aufgedeckt. Aber er hat sich kaum auf offiziellen Quellen gestützt, jedoch Hunderte von Webseiten konsultiert. Man muss häufiger ins Netz gehen, um Neuigkeiten zu erfahren. Zwar sind die so verbreiteten Informationen gewiss nicht über jeden Zweifel erhaben, aber von den traditionellen Print- und Massenmedien lässt sich das Gleiche sagen.

Aus alledem geht hervor, dass die Informationsvermittlung sich heute in einem tief greifenden Umbruch befindet und niemand sagen kann, in welche Richtung die Entwicklung führt.

Die gleiche Feststellung betrifft auch das Buch, dessen Bedeutung zurückgeht, so wie die Buchhandlungen ihrerseits, die das Buch verkaufen sollten, sich in eine Krise manövriert haben, indem sie mit wenigen Ausnahmen den Weg des geringsten Widerstands beschreiten. Feng Shui und Ratgeberliteratur über Zimmerpflanzen bilden kein Problem, bei der anspruchsvollen oder kritischen Literatur jedoch sieht die Situation düster aus. Als Buchautor weiss ich, was ich sage. Aber auch hier zeichnet sich ein Ausweg ab, weil immer mehr Texte digital verfüg- und abrufbar sind (Volltext-Angebote von literarischen Werken im Web, "books on demand" und so weiter) und neue Modelle von literarischen Formen und Ko-Autorschaft vom Web angeregt werden.

Wie die Entwicklung weiter gehen wird, kann auch hier niemand sagen, aber dass anregende, viel versprechende Neuerungen bevor stehen, ist jetzt schon absehbar.

13. Oktober 2002

Auf dem Weg zur neuen Weltordnung

Mit Recht wird die Abscheulichkeit des Terrorismus verurteilt. Warum aber verliert kaum jemand ein Wort über die Abscheulichkeiten, die ihm voraus gegangen sind, und die weiterhin begangen, jedoch weder beachtet noch beanstandet werden, weil sie nicht in die Sprachregelung passen? Wenn Präsident Bush im Namen des Guten einen Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" ausruft, dokumentiert er gleichzeitig seine Überzeugung, auf der Seite des Guten zustehen, und institutionalisiert er sozusagen einen "guten" beziehungsweise "gerechten" Terrorismus. Die Drohung, sich militärisch jede Option vorzubehalten, also auch Atomwaffen "light" einzusetzen, wenn es sein muss, ist eine beispiellose Ungeheuerlichkeit.

Da das Verhältnis von Gut und Böse für Bush undiskutabel feststeht, sind alle Skrupel ausgeräumt und alle Mittel erlaubt. Das ist es, was ihn so gefährlich macht. Er ist nicht fähig, seine Einstellung angemessen zu reflektieren und zu verstehen, dass es auch für einen angeblich gerechten Krieg keine absolute Legitimation gibt. Wer den Zweifel ausräumt, bereitet den Fundamentalismus vor. Niemand hat recht. Die anderen nicht, aber Bush genauso wenig.

Der so genannte Krieg gegen den Terrorismus verfolgt das versteckte Ziel, eine von den Vereinigten Staaten entworfene imperiale Weltordnung zu etablieren. Russland, China, die Türkei, Israel haben sich angeschlossen, Tschetschenen, Tiberter, Kurden, Palästinenser sind die Opfer. Andere werden folgen. Zuletzt kommen wir noch selber an die Reihe. Schon jetzt müssen wir zusehen, wie Demokratie, zivile Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit dereguliert werden, langsam, schrittweise, und wie der Kontroll- und Überwachungsstaat als utopisches Ideal eingerichtet wird. Ein umfassender, gewissermassen totalitärer Konsens breitet sich aus, derjede Kritik, jede Opposition, jeden Widerstand, jeden Widerspruch plattwalzt, groteskerweise im Namen von Sicherheit und Frieden.

Die heute erreichte uneingeschränkte Machtfülle der Vereinigten Staaten ist in dreifacher Hinsicht erdrückend: ökonomisch, strategisch (Überwachungstechnologien) und gesetzlich (Helms-Burton- und andere US-amerikanische Gesetze, die dazu beitragen, die Interessen der Vereinigten Staaten überall auf der Welt durchzusetzen). So werden die Verhältnisse definiert und der Lauf der Ereignisse diktiert. In dieser Situation bleibt den Machtlosen nur die desperate Möglichkeit, die Spielregeln zu ändern. Das ist es, was wir heute beobachten können.

Der Terrorismus ist - auch in den Vereinigten Staaten, wie zum Beispiel der Anschlag von Oklahoma 1995 zeigt - die Antwort auf die gegenwärtige Lage. Als die duale, antagonistische Weltordnung noch existierte, gab es das Gleichgewicht des Schreckens. In der monopolisierten, gleichgeschalteten Welt von heute ist an dessen Stelle die kritische Dichte getreten, die Anfälligkeit des Systems, auf die es nicht mehr reagieren kann. Unter diesen Voraussetzungen kann es nur noch virale Infektionen geben, Brandherde, Metastasen. Auch das können wir heute aus nächster Nähe beobachten, und niemand sollte sich wundern.

30. September 2002

Zwischen Konsens und Kritik

Der 11. September 2001 hat mehr erreicht, als es aussieht. Der sogenannte Terrorakt, dessen Hintergründe erstaunlicherweise immer noch nicht aufgeklärt und veröffentlicht worden sind, ist in der Folge mit einer Reduktion des Rechtsstaats einher gegangen beziehungsweise mit einer Einschränkung der Öffentlichkeit. Fremde, kritische, abweichende Meinungen waren schon immer ein Ärgernis gewesen, die den Konsens in Frage stellen, jedenfalls für diejenigen, die an dessen Erhaltung ein Interesse hatten. Aber jetzt ist alles noch gravierender.

Zwar gehört die breite Austragung kontroverser Auffassungen zur erklärten Grundlage demokratischer Öffentlichkeit, aber offenbar nicht zuviel davon. Es ist zwar schon eine Weile her, dass ein Schweizer Bundesrat appellierte, das "landesübliche Mass an Kritik" einzuhalten, doch bestehen geblieben ist diese Erwartung in unveränderter Form bis heute. In den Vereinigten Staaten kann neuerdings beobachtet werden, wie unter dem Zeichen eines um sich greifenden fürchterlichen Patriotismus jede kritische Stellungnahme verhindert wird. Gezielt unterbunden wird sie nicht unbedingt, es ist nur einfach unmöglich, sich angemessen Gehör zu verschaffen. Die Kollektivmeinung, die die Welt in "gut" (für Amerika) und "böse" (gegen Amerika) einteilt, wird auf allen Kanälen verbreitet und ist dermassen dominant, dass daneben kaum noch Platz für eine reflexive Betrachtung übrig bleibt. Amerikanische Stimmen haben bereits vor einem neuen McCarthyismus gewarnt. Andere Formen von Konsens lassen sich zum Beispiel in den Religionen beobachten, die keine andere Wahrheit neben sich dulden können und sich gegen jede Art von Häresie wehren.

Nun mag es eine leicht einsehbare Tatsache sein, dass eine Gemeinschaft zu ihrem Erhalt oder auch nur zu ihrem Selbstverständnis auf bestimmte Werte und Haltungen angewiesen ist, an denen sie sich orientieren kann. Wenn diese Vorstellungen aber verordnet oder auch nur durch eine vorauseilende, das heisst freiwillige und unterwürfige Einmütigkeit hergestellt werden, dann ist der Sache kaum gedient.

Nur eine offene Gesellschaft kann eine freie sein, zu der eine offene und freie Auseinandersetzung gehört, die den Zweck verfolgt, die kursierenden Werte auf ihre Tauglichkeit und Berechtigung zu prüfen. Sind sie zu keiner Veränderung fähig, stellt sich der Konsens früher oder später als Fiktion heraus. Wie in der Wissenschaft Erkenntnisse falsifizierbar sein müssen, um jederzeit durch neue, bessere ersetzt werden zu können, sind auch gesellschaftliche Wertkriteren einem Wandel ausgesetzt. Wird diese permanente Anpassung unterbunden, verkommen die Werte und Begriffe zur Doxa und zum Diktat, das heisst zur absoluten Lehre und höheren Wahrheit, und gehen der Diktatur voraus.

Der Konflikt zwischen Konsens und Kritik ist damit beinahe programmiert. Trotzdem ist das konfliktuelle Modell dem konsensuellen überlegen, weil es die Verhältnisse vor der Erstarrung bewahrt. Wer Kritik infolge dessen als Störung betrachtet, übersieht ihre notwendige soziale Funktion.

16. September 2002




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