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Claude Bühler ist Journalist und Schauspieler in Basel. Er arbeitete erst als Freier Journalist bei Printmedien, später als Redaktor und Produzent bei TeleBasel sowie als Medienverantwortlicher von act entertainment (Musical, Ballett, Show). Derzeit ist er wieder bei TeleBasel verpflichtet. Als Schauspieler war er in verschiedenen Regie-Arbeiten der Basler Schauspielerin und Regisseurin Ingeborg Brun sehen, beispielsweise als Jean in "Fräulein Julie" (A. Strindberg), aber auch als Professor Siebegscheit im Märli "Froschkönig" des Theater Fauteuil oder als Lucky in "Warten auf Godot" (S. Beckett) des Theater Marat Sade. |
Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Vor Sonnenuntergang"
Autor: Gerhart Hauptmann
Regie: Erich Sidler
Bühne: Wolf Gutjahr
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Carina Braunschmidt, Inga Eickemeier, Martin Engler, Mavie Hörbiger, Martin Hug, Renate Jett, Florian Müller-Morungen, Jörg Schröder, Bastian Semm, Raphael Traub
Puppen spielen Chiffren
Der Hass geht immer gegen die, die mehr Leben wollen und es sich auch nehmen.
Seine grosse Liebe findet der Grossverleger Matthias Clausen mit 70 Jahren - zur 19-jährigen Kindergärtnerin Inken Peters. Aufgepasst: Dieser leidenschaftliche Lebemensch nimmt diese Liebe todernst. Autor Hauptmann hat sie eindringlich als den Dialog zweier autonomer Menschen ausgestaltet, ohne Fallhöhe von wegen Alters oder Rangs. Nun aber muss Matthias Clausen erfahren, der sich ein Leben lang unternehmerisch forderte, kulturell bildete, geistig formte, dass seine Grossfamilie diese Liebe hasst und torpediert. Denn sie will nicht auf ihr Erbe verzichten! Sie will den Patriarchen als alten Trottel, den man finanziell und auch emotional ausbeuten kann. So offen sagts natürlich keiner. Nach ein paar fruchtlosen Intrigen bedrohen ihn die achso liebevoll besorgten Kinderlein mit amtlicher Entmündigung. Diese Respektlosigkeit, diese Niedrigkeit, diese Kleinheit aus seiner eigenen Brut das erträgt er nicht, er bricht, und bringt sich um.
Bei der Premiere 1932 in Berlin stach dieses Stück mitten hinein in das Klima revanchistisch-nationalistischer Machtgeilheit, sentimentaler Familien-Heiligung und sexueller Verlogenheit. Auf der Bühne des Basler Schauspielhauses 2007 hingegen konnte einen dieses Familien-Theater nicht recht entsetzen, weil fast alle auf der Bühne meinten, den Sauerteig schon zu gut zu kennen. Ausser beim derben Schwiegersohn Klamroth (Müller-Morungen) blieben die Emotionen bei fast der ganzen Familienbande Karikatur und die Worte Text, ohne den jeweiligen Ursprung fühlbar zu machen."
Puppen spielten Chiffren: Bedeutungsvoll hoben sich Augenbrauen und falteten sich Stirnen nicht sehr anders als wie bei den Grossindustriellen-Familien, die Derrick mit Harry besucht. Besonders aber verkörperte Jörg Schröder als Clausen nicht einen Kulturmenschen mit Strahlkraft, sondern einen etwas proletarischen Direktoren-Rentner, dem die Arme länger schon resigniert herunterhängen, und der sich jetzt mal einer Altersepisode hingibt. Mit so was leidet man nicht mit.
Regisseur Erich Sidler betrieb viel Aufwand damit, die Personen oft und rasch auftreten und wieder abgehen zu lassen. Sollte mit diesen Bewegungen die Entstehung eines Spinnennetzes auf der Bühne angedeutet werden? Oder ein Klima der Observierung dargestellt werden? Es ist nicht erkennbar geworden.
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Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung
"Angst"
Regie und Text: Caro Thum
Bühne: Beate Fasnacht
Mit Nicole Coulibaly, Chantal Le Moign, Lorenz Nufer, Peter Schröder
Wo, bitte, geht's hier zur Angst?
Wir müssen bekennen, fast immer stecken wir in Angst, pausenlos. Unser Tag ist ein einziges durchgehendes Band von Angst mit wechselnden Bedrohungen. Grosse Theaterdichter haben sie in ihren schillernsten Farben nach aussen gekehrt und ihren Ursprung offengelegt. Damit haben sie dem grossen Problem die gebührende Ehre und uns einen Dienst erwiesen.
Die 30-jährige Regisseurin Caro Thum hingegen hat auf der kleinen Bühne einen kleinen Themenabend gemacht, der die ganze Zeit über in der zu grossen Überschrift "Angst" herumschlingert, und im Typisierenden Halt sucht. Da sehen wir wieder einmal den Sofa-Rentner, der sich seine Angst-Batterien via Boulevard-Presse mit "Vogelgrippe" und "Klimawandel" täglich neu auflädt. Parallel dazu zappelt und lümmelt die langweilige junge Frau herum, die ihrem Freundeskreis nicht genügen kann. Oder der junge gestylte Macker trimmt sich mit Parolen zum "Gewinner-Typen". Man kann schmunzeln, immer wieder, aber kaum je verlieren die Szenen den Charme des Theater-Improvisations-Workshops mit ihren peinlichen Leerstellen.
Aber zwei Glanzstellen verzeichnet der Abend, und die gehören dem Schauspieler Peter Schröder. Erstens: Der Dancing-Besuch des Rentnerpaars. Schon beim Hereinkommen raunt er: "Ist das voll. Was, wenns brennt?" Gleich gehts weiter: "Wo hast Du die Autoschlüssel hingetan? Ich geh sie suchen, pass Du auf die Sachen auf." Wir als Zuschauer fühlen uns mittendrin in diesem Dancing, dabei sitzen die beiden Schauspieler Chantal Le Moign und Peter Schröder bloss auf der kargen Bühne in ihren Sesseln. Zweitens: Der grosse Angst-Monolog des Rentners. Seine Frau hatte Afrika als Ferienort vorgeschlagen. In einem Sturmlauf rattert und klappert der Mann atemlos unter Aufbietung seiner letzten Kräfte all seine Angst-Szenarien herunter: Bewaffnete schwarze Männer, überall Aids, riesige Stacheldrähte. Der lange Katalog machte vor allem sichtbar: Er hat sich vollgestopft mit medial aufgeladenen Schlagzeilen-Begriffen.
Das Publikum applaudierte freundlich. Bange wurde es während der 75 Minuten nie. Beklemmend wirkte nur der mit Backsteinmauern links, rechts und hinten geschlossene Bühnenraum; Die Genre-Chiffren funktionieren eben immer, wenn sie genau erfüllt sind.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung
"Lieblingsmenschen"
Autorin: Laura de Weck
Regie: Werner Düggelin
Bühne: Raimund Bauer
Mit Jan Bluthardt, Inga Eickemeier, Anne Schäfer, Katharina Schmidt, Sandro Tajouri
Starkes Dügg-Comeback
Minutenlang rauschte der warme und kräftige Applaus. Das Schauspielhaus war bis auf den letzten Platz besetzt: Dügg ist zurück, und Laura de Weck ist die derzeit meistgefeierte Schweizer Autorin. Hier war das Basler Comeback des Altmeisters, der bis 1975 das Theater leitete, und der Katapult-Start der jungen Zürcher Debutantin, die erst 1981 zur Welt kam: Der Direktoren-Fuchs Georges Delnon hatte den Riecher, dass diese Geschichte funktionieren könnte.
Und sie funktionierte, nicht nur als Verkaufs-Trick: Die Heldinnen und Helden sind fünf Studentinnen und Studenten der Generation SMS im schroffen Vorwärts-Rückwärts zwischen Trieb und Melancholie. Der reife Regie-Herr führte es mit Sentiment vor, aber ohne Sentimentalitäten, und liess die Sehnsüchte und Brüchigkeiten hinter dem kalten und spröden Jugend-Jargon aufleuchten, aber kaum ausspielen. So erhob er De Wecks Alltagsgeschichten und -gestalten auf tragisches Kammerspiel-Niveau.
Laura De Wecks Debut-Stück "Lieblingsmenschen" ist voller Schroffheiten und brutalen Wahrheiten. Du bist hässlich, sagt Darius zu Sven in demonstrativer Überzeugtheit. "Wollen wir gleich ins Bett", fragt Sven die Lili. Anna beendet ihre sechsjährige Beziehung zu Philipp mit einer SMS-Kurzbotschaft. Endlose "Heys" und "Hallos" eröffnen jeden Dialog und enden bei Ritzungen und Verletzungen. Die Oberflächlichkeit im Ton passt zur Jugend; De Weck nutzt sie als Chance, damit sie immer wieder von neuem quasi frisch durch diese Oberfläche hineinstechen kann. Und sie kann demonstrieren: Die Gespräche sind hilflose Stochereien. Ein einziges Mal nur gibt es das glaubhafte Geständnis tiefer Zuneigung, aber dort ist der Bruch schon vollzogen: Jule sagt es ihrem ehemaligen Partner Darius. Es ist der intensivste Moment des Abends.
Wie lange ist es her, dass das Publikum so schallend über frische Tonfälle gelacht hatte? Düggelin führte die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler nicht nur konsequent davon weg, ein typisiertes Genre-Bild der "Jugend" abzuliefern, sondern versuchte sie auch davon wegzubringen, "ihre Type" abzuliefern. Besonders schön gelang dies Sandro Tajouri, der ohne sein Schauspieler-Gesicht zeigte, wie Darius als einziger gegen die Oberflächlichkeit der Anderen anrennt.
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Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"Wilde - der Mann mit den traurigen Augen"
Autor: Händl Klaus
Regie und Bühne: Marcel Keller
Mit Carina Braunschmidt, Martin Hug, Vincent Leittersdorf, Oto Ris, Raphael Traub
Ekel-Attacke
Länger nicht mehr gekotzt? Dann gehen Sie ins Theater! Der von Feuilletonistinnen und Feuilletonisten derzeit stürmisch gefeierte und mit Preisen bedeckte Jung-Autor Händl Klaus (er nennt sich so) setzte nun auch das Basler Publikum in seinen Weltekel. Unter lautem Knirschen brach ein Arm, das Publikum ächzte vor Entsetzen. "Langsam bitte", bat ein Mann, der dabei assistierte. Ein Arzt rammte einer Frau eine Nadel in die Brust. Zwei Mal. Beim ersten Mal hatte er die Luftblase nicht getroffen. Blut ergoss sich ins Leintuch unter ihr. Das blutgetränkte Leintuch wurde einem Mann, der da lag, übers Gesicht gezogen. Was fällt diesen Leuten noch alles ein?
75 Minuten Anspannung auf der Balance: Wann kommt die nächste Ekel-Attacke, und was will dieser Autor Klaus? Und ist es im Verhältnis zu den Qualen interessant genug?
Die offensichtliche Brutalität ist ja noch nicht die Schlimmste des Abends: Eine Familie verleibt sich wie ein Polyp quasi einen fremden Arzt bei lebendigem Leib ein, den Gunter, der zufällig zu früh ausgestiegen war in ihrem bäuerlichen Nirgendwo-Kaff. Aber wozu das alles? Eine Übung über Sprache? Die vielen, vielen Wörter und Floskeln strotzen vor Mehrfachdeutbarkeit, und sind am Ende oft nur Platzhalter der Machtspiele. Alles, was gesagt wird, alles, was geschieht, entspricht dem Verdauungszustand von Gunter.
Nur etwas Wasser hatte er gewollt, verschwitzt und entkräftet von einer mehrtägigen Zugreise. Zwei sadistische Tunichtguts, die Brüder Hanno und Emil Flick, bedrohen ihn in höflichem Ton, er solle hier bleiben, sich ausruhen, brechen einem anderen Mann den Arm, und bringen den dummen Gunter dazu, diesen Mann auch noch zusammenzuschlagen. Danach schieben sie ihn nach Hause: Ein Bunker, der sich nur von aussen öffnen lässt, des Autors "Menschen-Abort", seine Endlösung. Mit jedem weiteren Entwicklungsschritt verengt sich die Bühne um ein weiteres Element, als wäre die Welt eine überdimensionierte Folterzelle. Dort ist die kranke Schwester, die Krankenschwester Hedy, und der Günter zückt zu ihrer Heilung seine Nadel: Das ist mehr als nur Sex-Assoziation, das soll Sex sein. Am Ende verliert er auch noch den Reisepass seine Identität ist weg, und die Moritat zu Ende.
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ECHO |
"Gab es Applaus, Buhrufe, Pfiffe?"
Lieber Herr Bühler, wie hat denn das Publikum auf das Dargebotene reagiert? Gab es donnernden Applaus und 100 Vorhänge, Ausrufe des Entzückens? Oder vielleicht das pure Gegenteil, Buhrufe und Pfiffe für Autor und Regisseur? War das Haus eigentlich voll oder zu drei Viertel leer, was zu Beginn und was am Ende der Vorstellung? Diese Informationen gehörten doch zwingend in einen Premierenbericht.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Endstation Sehnsucht"
Autor: Tennessee Williams
Regie: Christina Paulhofer
Mavie Hörbiger, Oliver Masucci, Lorenz Nufer, Susanne-Marie Wrage u.a.
Endstation Theater
Grosses Staunengeraune im gut gefüllten Auditorium: Schauspieldirektor Elias Perrig vermeldete zum Start, dass zehn Tage vor der Premiere die Hauptdarstellerin Katja Reinke ausgefallen sei wegen Krankheit, und Susanne-Marie Wrage sich zum "Wahnsinn" (Perrig) bereit erklärt habe, nun nach nur einer Woche Probe die Blanche zu spielen.
Allein schon die enorme Textmenge in dieser kurzen Zeit zu speichern: Unvorstellbar. Und dann das Resultat nach 140 Minuten: Hätte es niemand gesagt, wer hätte etwas davon bemerkt im Publikum? Wrage, wie immer: Präsent, präzis, ohne Wackler. Riesiger Applaus am Ende.
Wozu aber die vielen Worte darüber? Weil es in Wirklichkeit schrecklich ist. Kein Mensch kann die Blanche du Bois nach einer Woche Probe spielen, auch die Wrage nicht. Blanche Du Bois' hochraffinierter Charakter ist das Drama. Williams hat mit diesem Stück ein Plädoyer eigens für diesen Charakter geschrieben: Es besteht ganz aus dem Mitgefühl mit diesem Charakter. Das will erst mal ganz durchschritten sein, wenn's hier um Kunst gehen soll.
Früh und tief verletzt vom Fall ihres herrschaftlichen Südstaatenhauses und mittlerweile völlig abgebrannt und heimatlos sucht Blanche Unterschlupf in New Orleans bei ihrer Schwester Stella und ihrem Mann, dem Proleten Stanley Kowalski. Hinter ihr liegt ein kaputtes Leben mit zahllosen Affairen; die letzte mit einem 17-Jährigen kostet sie die Lehrerinnenstelle. Die hysterisch-feinnervige Quasi-Idealistin Blanche und der animalisch-kraftprotzige Quasi-Realo Stanley geraten in der Enge der Arbeiterwohnung naturgesetzmässig sofort aneinander und ertragen einander auf den Tod nicht. Am Schluss vergewaltigt er Blanche, die gebrochen in eine Psychiatrische eingeliefert wird.
Wrage zeigte eine Wrage-Blanche: Vernünftig, da und dort exaltiert, gelegentlich feministisch-zickig. So eine Wrage-Blanche fällt immer auf die Füsse. Innert Kürze würde sie bei Kowalskis das Kommando übernehmen.
Auf der Bühne des Theater Basel ist das Drama eine TV-Soap über den Dauerkrach in einer WG, in der sich alle auf den flauschigen Fauteuils herumlümmeln, anschreien und über das Musikprogramm ihre Machtkämpfli austragen. Es ist eine peinliche Tatsache, wie wenige im Stück angelegte Konflikte in der Aufführung ihre Wirkung entfalten.
Kein einziger Charakter verrät tiefere Schichten, Gefühle von jenseits der Verstandesgrenze. Der dramatische Stückverlauf ist das Einzige, was durch den langweiligen Abend zieht. Die Popsongs von "Soundgarden", "Nine Inch Nails" oder Marianne Faithfull sind eine peinliche Anbiederung an ein heutiges Publikum - für Blanches Gefühlswelt sind sie zu viel zu ordinär.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Was ihr wollt"
Autor: William Shakespeare
Regie: Elias Perrig
Bühne: Wolf Gutjahr
Mit: Urs Bihler, Jan Bluthardt, Martin Hug, Vincent Leittersdorf, Chantal Le Moign, Katharina Schmidt, Jörg Schröder, Peter Schröder, Bastian Semm, Raphael Traub, Nikola Weisse
"Der Kühlschrank
ist leer"
Unter einem Waschtrog hervor kriecht die Viola, die Meeresschiffbrüchige, zu Beginn "an Land". Wir sind im Jahre 2007 und haben uns daran gewöhnt, dass Shakespeares Meeresschiffbrüchige jetzt immer unter einem Waschtrog auf die Bühnen der Staatstheater klettern. Auch gehört der liebeskranke Graf Orsino natürlich in ein BETT, wo er sich wälzt und stöhnt. Er spricht ja den Text, dass er KRANK sei, weil ihn die Gräfin Olivia nicht erhöre. Und hat nicht manch einer die TRAUMHAFTE Stimmung gerade in Shakespeares späteren Komödien empfunden: Wohlan, so SCHLÄFT halt alles zu Beginn auf der Bühne auf den Sofas, Betten, Stühlen, die die ganze Bühne verstellen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Regisseure uns modernen Verstandesmenschen HELFEN wollen, den KLASSIKER NOCH IMMER als AKTUELL zu verstehen.
Wir haben uns sogar daran gewöhnt, dass die Regisseure heute die Klassiker mit sogenannt heutigen Bildern NACHbebildern, um zu sagen, sie hätten das 400-jährige Stück in die Gegenwart geholt. Deshalb gehört auch der Kühlschrank auf die Bühne. Viel gelacht hatte da das Publikum, als Gräfin Olivia dem Kammermädchen Maria sagte: "Maria, der Kühlschrank ist leer." Solche Sätze mittendrin bringen Shakespeares leichten Geisteston abgeklärter Weltsicht so recht RUNTER auf die Denkhöhe von uns heutigen Mittelschichtlern. Von dort aus mag es eine kühne MODERNE DEUTUNG sein, dass der bigotte, selbstgerechte Hausverwalter Malvolio unter seinem SCHWARZEN Anzug richtige Strapse trägt. Solches Klamauk-Zelebrieren hat den entscheidenden Nachteil, dass es als Witz viel zu langsam ist für Shakespeares Geist.
Zur Geschichte: Die Viola liebt den Grafen Orsino und tritt verkleidet als Mann bei ihm als Diener ein, wo sie aber als seinen Liebesboten die Gräfin Olivia für ihn gewinnen soll. Bald schon gewinnt sie die Gräfin allerdings für sich. Diese genial durchgeführte Verwechslungskomödie ist ein prächtiger Vorwand für Shakespeares eher pessimistische Sichtung, dass der Mensch sich lieber in Bilder verliebt als in Wirklichkeit liebt. Für diese Sichtung gabs auf der Bühne des Schauspielhauses unter der Last der Nachbebilderungen und Deutungen und auch des derben und überdrehten Klamauks weder Platz noch Zeit noch klare Kontur des Stück-Hintergrundes.
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Hochgenuss |
*** |
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Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"Nachts ist es anders"
Ein Reigen
Autor: Sabine Harbeke
Regie: Alexander Nerlich
Bühne: Gisela Goerttler
Mit: Inga Eickemeier, Steve Karier, Barbara Lotzmann, Florian Müller-Morungen, Anne Schäfer, Bastian Semm, Sandro Tajouri
Figuren im Spiegel: Dieter Häner, Volker Hartl, Verena Holzherr, Bea Kern
Wir sind Wartsaal
Erschreckend hässlich sind alle Spital-Wartsäle der Welt, und unheimlich ist, was wir in ihnen zu vernehmen glauben: Fieber, Einsamkeit, Todesangst, die Toten, die Schande des Daseins. Ein tolles Drama-Potential. Die Zürcherin Autorin Sabine Harbeke (41) ist eine der ganz Wenigen, die es nutzen wollte. Ihr nächtliches Wartsaal-Bühnengedicht lässt 90 Minuten lang alltagstragische Schicksale alltäglicher Wartsaal-Helden Revue passieren, ohne Erlösung oder Auflösung. Botschaft: Was wirklich bleibt, das ist der Wartsaal, und der Wartsaal, das ist das monströse Loch an sich.
Ihr Loch am Deutlichsten zeigt die demente Oma Irma Stoob (Lotzmann). Unvermittelt verwechselt sie den Kaffee-Automaten mit einem Glücksspielkasten, während sie sonst vernünftig über ihre Jugendsünden parliert. Nachts um eins wartet sie mit ihrem Sohn, dem Witwer Ulrich (Karier), auf das Ende der Notoperation seiner Tochter Lisa. Ulrichs Loch: Liebevoll umarmt er seine Mama und stopft ihr gleich darauf wütend mit zwei Schlaftabletten den Mund. Die nette Krankenschwester Pia (Eickemeier) errötet wie ein Backfisch vor ihrer grossen Liebe Martin (Müller-Morungen). Und verdealt Tabletten an Süchtige, ja stiftet den Tabletten-Junkie Schlick (Tajouri) eiskalt dazu an, die schlafende Mama Irma zu bestehlen. Die bittere Tuberkulöse Marie (Schäfer) will diese Löcher, die Lügen, das ganz normale Ausweichen nicht hinnehmen. Ihren ganzen Weltekel schleudert sie ihrem Bruder Martin an den Kopf, ihr ganzes Loch an Liebe.
Regisseur Alexander Nerlich hatte nicht ganz den Mut zu diesem monströsen Loch und die sichere Hand für die scharfkantigen Profile: Die unvereinbaren Persönlichkeits-Teile bei allen diesen Wartsaal-Helden ganz schroff unvereinbar zu lassen. Er wollte erklären, plausibel erscheinen lassen, wo das Stück auseinanderreissen will. Eigens hat er kurze Unterbrecher-Szenen wie filmische flash-backs kreiiert, mit intimen Begebenheiten, die die Wunde des jeweiligen Wartsaal-Helden erklären soll. Ausserdem umarmen sich die Leute derart oft, dass der Eindruck eines persönlichen Geheimnisses verflacht.
Das Publikum applaudierte heftig für eine engagierte Darstellerleistung des Ensembles. Wirklich unheimlich ist Inga Eickemeiers monströse Krankenschwester Pia. Anne Schäfer gelang es, die ehrliche Gutwilligkeit aus ihrer bitteren Marie klingen zu lassen.
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Hochgenuss |
*** |
sehenswert |
** |
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Theater Basel, Schauspielhaus
Deutsche Erstufführung
"Besuch"
Autor: Jon Fosse
Regie: Elias Perrig
Bühne, Kostüme: Beate Fasnacht
Musik: Biber Gullatz
Mit Inga Eickemeier, Chantal Le Moign, Vincent Leittersdorf, Raphael Traub
Familien-Horror
unter Verschluss
Grosse Löcher in den Zuschauerreihen zur Debut-Premiere des neuen Basler Schauspieldirektors Elias Perrig: Er trat am Sonntagabend mit einer stimmungsvollen Inszenierung von Jon Fosses "Besuch" an. Das Publikum applaudierte am Ende begeistert.
"Fassade" scheint schon das Bühnenbild zu sagen. So kalt, weiss und kahl wie in diesem Wohnzimmer mit Designersofa siehts in dieser modernern Halbfamilie auch drinnen aus. Die dünne 19-jährige Siv steht in Strumpfhosen und Morgenmantel da der Anblick tut weh wie der einer Verstümmelung. "Weiss nicht", ist ihr Verweigerungs-Antworten-Standard. Sie tut den ganzen Tag nichts, spazieren, fernsehen, radiohören, eben nichts. Die Mutter treibt sie mal nett, mal geduldlos zu Taten an, so wie das wohlmeinende Bürgermütter tun, die in ihrem Pragmatismus langsam dick werden.
Das Entsetzliche steckt in harmlosen Normal-Sätzen, und Autor Fosse lässt es uns über die zwei Stunden selber zusammenreimen: Hier verbirgt der freundlich-resignierte Umgangston gutverdienender Linkswähler sexuellen Missbrauch an Siv, und das Geschwätz erstickt das Gespräch darüber. Zuerst wars der Vater (lang schon weg warum?), dann der Neue der Mutter, Eivind, der den Übergriff als ganz besondere Freundschaft behauptet wohl auch vor sich selber. Takt- und wirkungssicher inszenierte Regisseur Elias Perrig ohne alles Schrille diesen stillen Horror des Normalen unter Verschluss.
Das rückte dem Premieren-Publikum doch recht nahe: Das Getuschel und Geruckel in den kurzen Umbau-Pausen, die zu lauten Lacher, die nach herbeigesehnter Entspannung klangen, verrieten manches touché. Aber auch, dass das Basler Publikum es nicht mehr gewohnt ist, sich von intimen Spielszenen und hohen Spannungen auf der Bühne (auch unangenehm) berühren zu lassen.
Indes, Autor Fosse hat es mehr auf den Horror der Gesamtsituation abgesehen als auf das Drama der einzelnen Personen. So clever spielt er auf der Klaviatur unserer auf das Thema gereizten Wahrnehmung, dass seine vielen Pausen, das Nichts-Sagen, die spärlichen Informationen zum tollen Theatertrick werden, und auch zum Schweigen des Machers. Er muss sich die Frage gefallen lassen, ob er dramatisieren oder erhellen will.
Inga Eickemeier als Siv ist die Entdeckung des Abends. Wenn die Mutter (Le Moign) sie schlägt, erbleicht sie vor Wut und Entsetzen. Vincent Leittersdorfs Eivind ist so schmierig, dass einem der Atem wegbleibt.
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Hochgenuss |
*** |
sehenswert |
** |
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Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"The killer in me is the killer in you my love"
Autor: Andri Beyeler
Regie: Martin Frank
Bühne: Alex Harb
Die Jungen: Jan Nahuel Häfliger, Andreas Müller, Jan Nico Grüninger, Sarah Speiser, Seline Trächslin
Die Alten: Jürg Mumenthaler, Renato de Pedrini, Elke Füllhaas, Sonja Speiser, Patrick Widmer, Silvia Zuberbühler
Sieg für das Jugend-Theater
Das Jugend-Theater siegt fast immer, wenn es "die Jugend" darstellt. Das war auch an der Basler Premiere von "The Killer
" nicht anders. Das Jugend-Publikum applaudierte eifrig, schon allein, weil es sich 90 Minuten lang selber zuschauen konnte.
Nun, "die Jugend", was heisst das schon? Der Schaffhauser Jung-Autor Beyeler (Jahrgang 1976) hat diesen seinen Jugend-Theater-Durchbruchs-Hit mit eigentlichen Vorstadt-Dorf-Normalos gelandet. Der Gerber und der Surbeck, die Hanna und die Lena könnten aus Reinach oder Magden sein, dort in der Badi peinlich herumgrinsen und sich verstohlen aneinander heranrobben. Was ist daran so interessant? Beyeler hat den Jargon punktgenau getroffen.
Und diese Basler Jungen spielen ihn so, als hätte es diesen Autoren gar nie gebraucht, als hätten sie den Text und die kleine, um nicht zu sagen dünne, Geschichte selber erfunden. Die Freunde Surbeck und Gerber stehen beide auf die Hannah. Auf die Lena steht niemand. Die frisst abends das Schokoladen-Versteck leer. Die Hannah nimmt dann den Gerber. Gerber und Surbeck entfremden sich. Jetzt sitzen Gerber und die Hannah immer auf dem Mäuerchen beim Milchhüsli. Und wenn Surbeck von der Badi kommt, gibts eine peinliche Stimmung. Am Ende aber verlässt die Hannah den Gerber. Wegem Moser. Dazwischen gibts die erste Zigarette, die Sex-Heftchen auf der Toilette und die Balz-Rituale mit dem Bade-Tüchlein oder beim Sprungbrett. Die Helden treten immer wieder mal nach vorn und erzählen quasi aus erster Hand den Krimi aus ihrer Sicht. Das ist durchaus vergnüglich, denn die Jugendlichen spielen derart frisch und unverbraucht, dass man doch immer wieder staunen darf über die Spielarten unserer Spezies.
Das hat nun dem Regisseur Martin Frank aber nicht genügt, nein, er hat mit einer Alten-Sektion der Story einen doppelten Boden geben wollen: Die Alten, die den Text der Jungen repetieren, scheinen sich also zu erinnern. Und damit hat er dem Jugend-Theater auch den Lehrer-Theater-Mief hinzugefügt, denn diese Alten spielen nicht so unverbraucht, im Gegenteil sperrig, wichtigtuerisch und sentimental. Ausserdem hat er die Geschichte verschleppt.
Wertung |
**
*** Für die Jugendlichen
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Hochgenuss |
*** |
sehenswert |
** |
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* |
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Theater Basel, Grosse Bühne
Uraufführung
"Cyrano"
Autor: Edmond Rostand in der Fassung von Simone Meier
Regie: Christina Paulhofer
Bühne: Alex Harb
Mit Florian Müller-Morungen, Mavie Hörbiger, Bastian Semm, Nicole Coulibaly, Sandro Tajouri, Andrea Bettini, Lou Bihler u. a.
Um Nasenlängen gekürzt
Wer die intimsten Regungen Cyranos vernehmen will, und ihm nachempfindet, dass er dafür die Poesie braucht, der gehe nicht zu Simone Meiers "Cyrano". Auch wer Cyrano für einen Einsamen hält, der in dieser Welt einsam sein muss. Das kommt nicht vor, findet nicht statt.
Wer es aber "glunge" finden kann, Cyrano als hochtalentierten und komplexüberladenen Rock-Star wie etwa Falco oder Kurt Cobain zu erleben, der wird ein starkes Bühnen-Erlebnis mit nach Hause nehmen, vor allem den fulminanten Auftritt des Bochumer Hauptdarstellers Florian Müller-Morungen. Nie in den letzten Jahren ist ein Schauspieler derart bejubelt worden. Zu Recht. Rostands Poesie spricht er mit einer Führung, wie Eric Clapton seine Gitarre spielt, gerade in der berühmten Balkon-Szene mit seiner angebeteten Roxanne. Wie ein Jungspund lässt der 35-Jährige das Übermass seiner Kräfte akrobatisch herumtoben, wenn er den Trottel Valvert im Duell fertigmacht. Es kann einem beim Zuschauen bange werden, wie er mit dem Degen über den Party-Pavillon des Plattenmulti Guiche (Bettini) wirbelt.
In den Wirren der Dauer-Party leidet Cyrano vor aller Augen, dass Roxane (Hörbiger) nicht ihn liebt, sondern den glatten Jon-Bon-Jovi-Typen Christian (Semm). Der kann aber nicht "gut reden", worauf nun die feinsinnige Roxane besteht. Also spannen die beiden zusammen: Christian ist der Körper und Cyrano der Geist, der Roxane Briefe und Gedichte schreibt. Nun müssten die beiden laut Rostand in den Krieg ziehen; Autorin Simone Meier schickt sie auf eine strapazierend stressige Europa-Tournee mit vielen, kleinen Groupies. Abgemattet donnern sie ihren Punkrock à la Nick Cave. Regisseurin Christina Paulhofer lässt das Liebes-Drama auf der Drehbühne Karussell fahren. Wie soll jetzt aber Christian fallen?
Meier hat allerlei "Lösungen" bereit, auch für Cyranos Nase. Wir erfahren: Sie ist kein Überding, das den Harmonie-Sehnsüchtigen stört, sondern bloss ein dummer Komplex. Und er stirbt auch nicht an einem Anschlag, den Leute legten, denen er zu sehr auf die Pelle rückte, sondern er stösst
aber das sollen Sie sich selber ansehen. Was aber Cyrano sicher nicht verdient hat, sind diese "Klänge" aus dem Esoterik-Laden zu seinem Tod. Pfui.
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Hochgenuss |
*** |
sehenswert |
** |
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"König Oedipus"
Autor: Sophokles
Regie: Alexander Kubelka
Bühne: Paul Lerchbaumer
Mit Inga Eickemeier, Martin Engler, Renate Jett, Steve Karier, Katja Reinke, Katharina Schmidt, Jörg Schröder, Peter Schröder, Raphael Traub
Oedipus mit Stör-Geräuschen
Warum ergötzen wir uns so an Politiker-Gesichtern? Weil wir ihre Masken zittern sehen wollen? Auch König Oedipus ist ein Politiker in der Auffassung von Regisseur Alexander Kubelka. Er setzt die Stadtoberen von Theben an einen langen Pressekonferenz-Tisch vor das Volk (uns). Dort auf der kahlen Bühne nimmt Herr König Oedipus Stellung zu der Seuche, die unsere Stadt befallen hat und die Bürger tötet. Auch seine Maske zittert: Er selber sei schuld an allem, sagt erst das Orakel (noch dunkel), dann der Seher Teiresias (deutlich). Seine Schuld und Schand: Er hat den Vater ermordet und seine Mutter Iokaste (Reinke) begattet. Am Ende bestätigt es ein alter Sklave. Iokaste hängt sich auf, Oedipus sticht sich ihre Nadeln in die Augen.
Der Oedipus Steve Kariers ist ein etwas tuntiger Überästhet im schwarzen Anzug mit Despoten-Glatze, der die dauernden Neuenthüllungen zwar mit Widerständen und Wutausbrüchen abwehrt, sie aber doch selber mit Fragen und Nachforschungen vorantreibt: Ein moderner Politiker in einem modernen Theben mit Plastikflaschen und Ravioli-Büchsen, mit elektrischer Gitarre und Pressekonferenzen-Mikrophon.
Sophokles 2'400 Jahre alter Text ist einer der schönsten und wichtigsten des Theaters überhaupt. Extra wurde er leicht verständlich übersetzt, viele Stellen wurden gekürzt, Monologe mit Einwürfen unterbrochen und der Chor ganz weggestrichen. So können wir hier zwar Sophokles perfekte Uhrwerk-Dramaturgie durchaus bewundern und seiner überwältigenden Rhetorik folgen, aber der geniale Lyriker, der uns mit seiner radikalen Vergegenwärtigung in den Bann zieht, auf den müssen wir verzichten. Das Gedicht wurde dem modernen Schauspiel geopfert.
Thebens Ordnung Chaos sehen wir mit Kulissen-Schiebereien und (sehr lauten) Störgeräuschen abhanden kommen. Die Tische stehen bald quer auf der kahlen Bühne, die Plastikflaschen fliegen umher, verzerrte Gitarren-Sounds oder der atemberaubende Lärm eines Bühnenhebezuges strapazieren die Nerven. Wie Oedipus am Schluss blind seine Kinder nochmals berühren will, geschieht dies bei Sophokles aus der Zärtlichkeit eines Verlorenen. Hier würgt er Ismene und Antigone aus Machtgier und Hass. Die Masken fallen nicht.
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Hochgenuss |
*** |
sehenswert |
** |
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Theater Basel, Kleine Bühne
Schweizer Premiere
"Entlegene Inseln"
Autor: David Greig
Regie: Gian Manuel Rau
Musik und Geräusche: Ralph Hufenus
Mit Raphael Clamer, Martin Hug, Lorenz Nufer, Linda Olsansky, Hans Rudolf Twerenbold
Nebel über der Kleinen Bühne
Es muss Jahre her sein, seit auf dieser Bühne so grundsolide eine Geschichte erzählt wurde mit einfach verständlichen Bildern.
Düster hängt Nebel im fahlen Licht der Kleinen Bühne. Felsen ragen hoch aus dem schwarzen Bühnenboden. Möwen schreien, Meeresbrandung rauscht. Die äusseren Hebriden eben. Ein Paradies für die Cambridge-Absolventen John und Robert, die hier auf diesen entlegenen Inseln Vögel erforschen sollen. Der komischste Vogel jedoch ist der geizige, bigotte Insel-Pächter Kirk, der seine Nichte Ellen eng hält und auf Regierungs-Gelder spekuliert: Die Insel soll als Test-Gebiet für Anthrax-Bomben dienen, und diese Tests im Sommer 1939 sind der wahre Grund für das Projekt der Jung-Ornithologen. Die Beiden gehen handgreiflich auf den Insel-Mann los, der beim Streit stirbt.
Der wahre Grund aber für den britischen Erfolgs-Autor David Greig, diese Geschichte aus wahren Begebenheiten zusammenzustoppeln, ist die Metapher im Titel: Mit "Entlegene Inseln" sind wir gemeint. Irgendwo im unendlichen Meer eines riesigen Zusammenhangs, den wir nicht kennen, getrieben von Wünschen und Ängsten, schlägt sich jeder nach seiner Weise durch. Der sinnliche Beni-Huggel-Typ Robert (Nufer) stürzt sich als "Vogel" von der Klippe, der verklemmt-intellektuelle John (Clamer) macht erstmal überall sauber, und Ellen (Olsansky) vibriert zwischen beiden aber mehr als Insel-Sennentuntschi, als Eros-Phantasie denn als eine wirkliche Person. Der alte Kirk (Twerenbold) ist die schnöde Welt des "Jeder-ist-so" mit ihrer Begierde, die sie mit Verboten in Schranken hält.
Wie gehts jetzt weiter? Diese Frage hält als Spannungsbogen gut über die gut zwei Stunden. Da aber der Autor David Greig keine verbindlichen Hinweise für tiefere Deutung geliefert hat, hat Regisseur Gian Manuel Rau sie auch nicht gesucht. Und da bei der Übersetzung auch noch Bildhaftigkeit und Ironie abhanden kamen, hängt über dem ganzen Abend etwas von der schweizerischen Schwere grundlegender Wahrheitssuche. Szene für Szene wurde der Stoff abgearbeitet, und versucht, die Typen genau zu zeichnen. So gelingen die Dialog- oder Gruppenszenen teilweise mit Spielwitz, aber Ellens Monolog laut Autor Greig das Kernstück - bleibt trocken und flach.
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Hochgenuss |
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Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung
"69 Arten den Blues zu spielen"
Autor: Jürg Laederach
Regie, Bühne, Kostüme: Anna Viebrock
Musik: Johannes Harneit
Mit Urs Bihler, Jan Bluthardt, Carina Braunschmidt, Martin Hug, Isabelle Menke, Jürgen Stössinger, Nikola Weisse, Graham F. Valentine
Laederachs Hammer-Sätze
Als wäre ein böser Traum vorbei: So hat die Stimmung in diesem Haus mit der neuen Direktion gewechselt. Statt aufgekratzt ist sie jetzt lebhaft, statt pseudo-avantgardistisch risikofreudig; Schauspielchef Elias Perrig hat seine erste Saison hier mit einem "Experimental"-Stück begonnen, und das hätte ganz gut durchfallen können. Bei "69 Arten den Blues zu spielen" gibts keine Story, nicht mal einen verständlichen Text, sondern nur Sätze. Die aber sind wie Hammerschläge: "Der Mutwilligste ist am Gefährlichsten allein", "Ein Unfall ist doch nicht das ganze Leben", oder: "Mord, als schöne Kunst betrachtet, lässt unbefriedigt. Man fängt immer wieder damit an, aus ästhetischen Gründen." Sätze des Basler Autoren Jürg Laederach (60), zusammengeschüttelt aus seinen Romanen, Erzählungen etc. von Anna Viebrock und dem Ensemble.
Auch einen konkreten Ort gibt es nicht: Die Figuren auf der Bühne scheinen ihre Ewigkeit in einer grossen Kantine mit Plättliboden und grünen Sitzbänken im Fünfziger-Jahre-Stil verbringen zu müssen, so als gäbe es gar kein Draussen, sondern nur immer wieder die nächste Kulisse. Was soll diese Zone mitten in dieser Kantine mit dem schwarzen Teppich? Ist das unsere Lebens-Leerstelle?
Die nächsten 100 Minuten tasten wir uns durch den Traum suggestiv aufgeladener No-Sense-Handlungen. Der Mann mit dem Koffer geht zum Wandtelefon und sagt: "In einer halben Stunde, in 3 Minuten, in einer Stunde." Einer Frau fallen bei jeder Bewegung Pillen aus dem rosa Kostümchen. Ein Herr mit Brille baut eine Briefbombe, die aber lediglich einen Teelöffel aus einer Keramik-Tasse spedieren könne. Ein anderer spricht mit einer unsichtbaren Person. Und zu seltsamen Suspense-Klängen fährt ein Camion (draussen, sichtbar durchs Fenster) vorbei. Nicht alles glückt; sofort fehlt die Spannung in der Plastik.
Wir sollen diesen "Unfug" wie Musik verstehen, hat die Regisseurin Anna Viebrock gesagt. Kein Problem für uns im Jahr 2006: Wir haben die surrealen Filme von Bunuel oder von Resnais wie "L´année dernière à Marienbad" in unserem Kollektiv-Bewusstsein.
Das Publikum applaudierte warm und wohlwollend. Viele hatten gelacht oder geschmunzelt. Besonders eindringlich: Der Mann mit dem Koffer von Graham F. Valentine.
Autor Jürg Laederach kam an Stöcken auf die Bühne und applaudierte heftig. Es wird wieder Theater gespielt in Basel.
Wertung |
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**** für Graham F. Valentine |
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Hochgenuss |
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sehenswert |
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ECHO |
"100 quälend lange Minuten"
Sätze wie Hammerschläge? Mag sein. Aber den Kopf des Nagels hat keiner von ihnen getroffen. Und auch das Publikum blieb ziemlich unberührt: Unruhiges Gerutsche auf den Stühlen, häufiges Hüsteln und gelegentlich sogar deutlich hörbares Getuschel zeigten: Hier herrscht Langeweile. Gelegentlich wurde aus dem Laederachschen "Unsinn" zwar wirklich witziger "Nonsense". Aber das kam so selten vor, dass es die 100 quälend langen Minuten auch nicht mehr gerettet hat.
Johannes Nordiek
Schopfheim
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Stadt der Zukunft"
Autoren: Tim Staffel, Johann Peter Hebel, Xavier Durringer, Guy Krneta
Regie: Bruno Cathomas, Rafael Sanchez, Lukas Bärfuss, Tom Schneider, Barbara Bürk, Robert Lehniger
Quietsch-Enten
und Fragezeichen
Erst nach dem Applaus kam der schönste Moment des Abends: Triumphal verkündete Theaterdirektor Michael Schindhelm, Sandra Hüller habe den deutschen Filmpreis erhalten, und unter donnerndem Applaus übergab er der schluchzenden Schauspielerin, die es vorgezogen hatte, hier zu spielen anstatt in Berlin zu feiern, den Riesen-Strauss Lilien. Auf einmal erwachten da die ganz einfachen Gefühle, nach über drei Stunden Kopf- und Bauch-Theater.
Nicht gedonnert hatte der Applaus für das sechteilige Final-Stück des abtretenden Basler Ensembles "Stadt der Zukunft" mit seinem Schlussteil "Die Rückkehr der Engel". Tim Staffels "Die Rückkehr der Engel" ist ein lädierter "Himmel über Berlin". Zwei gefallene Engel veranstalten pubertäre Quietsch-Enten-Schlachten, und stolpern über ihre Sätze. Der 20-jährige Halil vom Kleinbasel schäumt in erster Liebe zum 24-jährigen Industriellen-Sohn Michael vom Grossbasel. Staffel hat seine Schwulen-Geschichte mit politischer Kritik und hausbackenen Philosophie-Sätzen befrachtet. Der Schauspiel-Eber Bruno Cathomas (Regie) liess das Ensemble hysterisch herumschreien oder erregt wie Backfische herumtänzeln. Viele im Publikum hatten ein Fragezeichen im Gesicht.
Gleich drei Stücke gibt's im Mittelteil zur Auswahl: Man muss sich für eines entscheiden. "E Schtau vou Reh" von Guy Krneta (Regie: Rafael Sanchez) zeigt einen verschupften 80-jährigen Knecht (Marthaler-Schauspieler Ueli Jäggi) und eine drogensüchtige Mittzwanzi-gerin (Rahel Hubacher). Aber die bärntütsche Fast-Romanze aus dem Oberland hängt durch. Der Dreh ist bald klar, ab dann schleppts, trotz der Militärflieger, die über uns jagen.
Der Autor Lukas Bärfuss besorgte den Anfang. Er versuchte sich mit Johann Peter Hebels Gedicht "Die Vergänglichkeit" als Regisseur, und das geriet komisch. Vier Frauen in weiss arrangieren sich in Gruppen und Reihen auf der Spielfläche und sprechen den Text. Das erinnerte an stehende Eurythmie. Leider war der Text oft schlecht verständlich ausgesprochen.
Die "Stadt der Zukunft" kann zwei Mal in ganzer Version gesehen werden: 10. Juni und 24. Juni 2006.
Wertung |
** Die Vergänglichkeit (Hebel)
** Recording Angel (Tim Staffel)
** E Schtau vou Reh (Guy Krneta)
* Die Rückkehr der Engel
(Tim Staffel)
(Nicht gesehen) Ganze Tage - Ganze Nächte (Xavier Durringer)
(Nicht gesehen) Liebe, Arbeit, Video
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Hochgenuss |
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sehenswert |
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nun ja |
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ECHO |
"Etwas umgestellt"
"Stadt der Zukunft" wurde inzwischen etwas umgestellt. Man kann jetzt zwei Mal zwischen je zwei Stücken wählen. Ich habe bei beiden Teilen eine glückliche Wahl getroffen, die ich nur empfehlen kann:
"E Schtau vou Reh" ist in Dialog zwischen zwei Aussenseitern, einem alten, ziemlichen tumben Stallknecht und einer jungen, drogenabhängigen Frau auf Entzug. Eindrücklich, wie in einer zunächst oberflächlichen Konversation ganz plötzlich tiefe Sehnsucht aber auch ebenso tiefe Verletzungen zum Vorschein kommen. Überzeugend dargestellt von Rahel Hubacher und Ueli Jäggi.
"Ganze Tage - ganze Nächte" spielt auf der Strasse vor dem Schauspielhaus. Das Publikum sitzt im Foyer und betrachtet das Geschehen durch die grossen Glastüren. Der Ton wird per Lautsprecher übertragen. Das mag nach intellektuellem Experiment klingen, es ist aber ein sehr unterhaltsames, kabarettartiges Stück über die Begegnung von Menschen in der Grossstadt dabei herausgekommen. Häufiger Zwischenapplaus zeigt, dass die Spielfreude des Ensembles beim Publikum angekommen ist.
Johannes Nordiek
Schopfheim
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Theater Basel, Kleine Bühne
Premiere
"Wir im Finale"
Ein patriotischer Fussballabend
Autor: Marc Becker
Regie: Lars-Ole Walburg
Mit: Susanne Abelein, Urs Jucker, Markus Merz, Mike Müller, Thomas Reisinger, Steven Scharf
Musik: Tomek Kolczynski
Fussballfans, hingehen!
Wer hätte das gedacht! Lars-Ole Walburg kann auch richtig lachen: Nach Jahren entsetzlich trister und schleppender und nihilistischer Drama-Walburgs bot er nun einen kurzweiligen Lacher-Knaller als letzte Baseler Inszenierung. Mit "Tschüss Basel" auf dem T-Shirt verneigte sich der Schauspieldirektor aus Rostock vor dem stampfenden Publikum (war da nicht ein Tränchen im Knopfloch?).
Davor hat das Publikum 90 sehr lustige und satyrische Spielminuten in einer Muttenzerkurve verlebt. Fazit: Nichtfussballfans lachen laut, und Fussballfans lachen auch, sofern sie Humor haben. Der Autor Marc Becker ist bekennender Fussballfan und weiss also genau, worauf es beim Fussball wirklich ankommt: Auf alles um das Spiel! Auf die inneren Werte! In slow motion bewegen sich die Götter der kurzen Hose durch den Bühnen-Nebel in die Stadionmitte (also Bühnenmitte, direkt vor uns) und winken mit gereckten Armen gebieterisch dem Volke zu. Mit geballter Faust skandieren die Fans: "Wir lieben unser Land! Wir wollen Euch kämpfen sehen!" Der Radiomoderator (Müller) kaschiert mit nüchternem Parlando seine Anheize: "Tja, lieber Sportsfreund, da konnte der feindliche Angriff durchbrechen. Da wird der Kampf zuwenig gesucht", und im Lautsprecher krachen Granaten-Einschläge.
Es geht immer um alles, um Erlösung, Wahrheit und 150 Prozent Einsatz. Und wenn in der 43. Minute der erste Gegentreffer zum 0 : 1 fällt, dann ist "schon wieder" Verteidiger Kraushaar "Arschloch! Wichser! Hurensohn!", die Kurve tobt und die Welt wankt zur 7. von Beethoven unabänderlich dem Untergang entgegen.
Beim 2 zu 1 (für uns!) fallen Höhlenmenschen-Felle und Plastikkeulen vom Himmel: In seiner Euphorie findet der Fan-Mensch zu seinen Ursprüngen zurück ... Noch nie in den vergangenen drei Jahren wurde in diesem Hause so sehr gelacht wie bei der darauffolgenden Steinzeit-Polonaise. Und noch kaum je wurde es so unheimlich als die Fans mitten im Publikum minutenlang "We will rock you" skandierten.
Ach ja, und wer den Final gewinnt? Das verrat ich nicht!
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Hochgenuss |
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"Nach einer halben Stunde kam Langeweile auf"
Da staune ich jetzt doch ein wenig, lieber Herr Bühler, wie Sie den Herrn Walburg einschätzen. Und auch über ihre Euphorie für dieses Stück. Ich habe mich nach etwa einer halben Stunde ziemlich gelangweilt. Der Herr Theaterautor stellt sich in die Fan-Ecke und ist dann so was von authentisch! Würde dieses Stück, wäre nicht WM-Jahr, wirklich irgend eine müde Seele interessieren?
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Theater Basel, Klosterberg 6
Premiere
"Blackbird"
Autor: David Harrower
Regie: Agnese Cornelio
Mit Lilly Marie Tschörtner und Jörg Schröder
Mädchen: Solene Stucker, Lorine Wachsmuth
Er war 38, sie 12
Bei Kindsmissbrauch stellen wir auf "Abscheu": das machen wir aus Reflex, und den finden wir gut. Hier brüsten wir uns, etwas nicht mal verstehen zu wollen. Hier sagen wir: Es gibt keinen Einzelfall, der die akzeptable Ausnahme sein könnte. Wie sollte da ein Theaterstück durch dieses Bollwerk kommen?
Aber der Einzelfall von Raymond und Una wird jetzt auf den grossen europäischen Theatern vorgeführt, und die Uraufführung inszenierte der berühmte Peter Stein. "Blackbird" hat den 40-jährigen Engländer David Harrower auf die Feuilleton-Seiten gebracht. Er schrieb zu seinem Stück, was viele Autoren heute schreiben: Er habe nicht zu einem Schluss kommen, sondern Fragen stellen wollen.
So setzt er uns eine Wiederbegegnung vor, die wir danach absuchen, inwiefern wir Raymond für ein Schwein halten sollen oder nicht. Una hat ihren einstigen Missbraucher nach 16 Jahren auf einem Firmenprospekt entdeckt, und überfällt ihn nun in seiner Firma. Er schubst sie in die schäbige Kantine. Dort sind wir Zeuge des einstündigen Dialogs. "Mit welchem Recht dringst Du in mein neues Leben ein", schreit er, und "Ich war sechs Jahre im Gefängnis und ging durch die Hölle". Sie: "Ich bin jeden Tag in der Hölle". Ray nennt es Liebe, was er damals empfunden habe. Sie beschwört ihre Hörigkeit herauf und will ihm die Perversion nachweisen. Er sagt: "Du warst die einzige Minderjährige".
Harrower hat einen verbrecherischen Einzelfall in eine Nacht im Hotelzimmer konstruiert. Glauben wir den? Und was geht uns dieser "private", dieser vom Autor behauptete Einzelfall an? Anstelle der Psychen, die unsagbare Grenzerfahrungen hinter sich haben, sehen wir in Basel das Spiel von Reaktionen, die sich die Akteure mit ihrem Alltagsbewusstsein persönlich vorstellen können. Hier fehlte die erfahrene Regie-Hand, die die Akteure über Widerstands-Klippen in tiefere Zonen führt. Das konnte die junge Anfängerin Agnese Cornelio nicht. Die Intensität hätte bei weitem nicht mal für die letzte Nacht einer ganz normalen Liebes-Affäre genügt. So fadete diese letzte K6-Premiere den Klosterberg 6 aus.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Dido und Aeneas"
Nach der Oper von Henry Purcell und Marlowes Tragödie "Dido, Königin von Karthago"
Regie: Sebastian Nübling
Mit Andrea Bettini, Klaus Brömmelmeier, Wolfgang Brumm, Barbara Lotzmann, Rahel Hubacher, Sandra Hüller, Sandro Tajouri
Musik: Barock-Ensemble der Schola Cantorum Basiliensis
Königin rennt
gegen Wand
Eine riesige Küche: Der lustige Chor tanzt, kocht, schäkert und singt. Der rote Boden ist übersät mit hingemalten Riesen-Blumen und -Insekten. Sind wir da im Märchenbuch vom Urgrosspapa? Nein. Die Venus ist eine alte Schwuchtel und hält sich an die Whisky-Flasche. Der Jupiter ist ein dicker, schwuler Chef-Koch und bittet an den höfischen Langtisch, wo er Sellerie, Spargeln und andere Aphrodisiaka aufträgt. Dieser Schmaus sei also ein Drama aus antiken Tagen mit weltlichen Göttern und einem göttergleichen Liebespaar: Dido und Aeneas, sie Königin von Karthago, er Kriegsflüchtling aus Troja - er gewinnt ihr Herz, obgleich die Witwe schwor, sich keinem Mann mehr hinzugeben. Eine Hexe erscheint ihm als Merkur, mit dem Befehl sofort nach Italien abzureisen. Er gehorcht. Dido ist verraten und geht zugrunde.
Regisseur Sebastian Nübling lässt (mindestens) zwei Welten aufeinanderknallen, die extra nicht zueinanderpassen: Die Oper Purcells und die Tragödie Marlowes. Purcells Dido ist die Einsame von seelischem Adel, deren Herz am Verrat allein zugrunde geht. Dagegen ist Marlowes Dido ein despotisches Vollweib, vor dessen Eigensinn und Ausbrüchen der Hof zittert.
Sandra Hüller (Dido) spielt die Marlowsche. Sie beherrscht die Szene aber nicht nur, weil sie die Königin ist: Nübling wollte, dass die Preisträgerin des Berliner Silbernen Bären ihre Virtuosen-Effekte hemmungslos zum Besten gibt. Sie tats. Dazu gehörte die auch sentimentale Ehe-Szene bevor er abreist: Keine verletzte Königin, sondern eine Normalfrau im Clinch zwischen Stolz und Habgier. Nübling lässt sie nach Aeneas Abfahrt mehrere Male in die Wand rennen. Hier frage ich nicht nur: Empfindet eine Dido so dumm, sondern sind wir als Publikum so dumm, dass uns dieses flache Bild blosser Verranntheit rühren soll? Effektvoll liess Nübling Dido mit der Sopranistin Ulrike Bartusch doubeln: Die seelische Tiefe hinter dem "Hüller-Ich".
Der Abend gefiel: Donnernd applaudierte das Premieren-Publikum für die flotte Rock-Oper oder das barocke Singspiel oder die postmoderne Operette - Nübling hat sich entschieden, sich da nicht zu entscheiden, und uns von allem naschen zu lassen. So "passen" hier auch Purcells Arien vom "Hoforchester" Schola Cantorum Basiliensis zum Oriental-Triphop aus den Lautsprechern.
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Theater Basel, Grosse Bühne
Premiere
"Peer Gynt"
Autor: Henrik Ibsen
Version: Florian Fiedler und Andrea Schwieter, frei nach Christian Morgenstern
Regie: Florian Fiedler
Bühne: Maria-Alice Bahra
Mit Johanna Bantzer, Urs Bihler, Laura de Weck, Iris Erdmann, Verena Holzherr, Uli Kirsch, Chantal Le Moign, Vincent Leittersdorf, Christoph Müller, Ines Palma Hohmann, Claudia Renner, Aljoscha Stadelmann
Peer als Junge von nebenan
Bah, was für ein Riesen-Schinken, dieser Peer Gynt. Norwegens Nationaldichter Ibsen hat dem Publikum keine Mühsal erspart: Endlose Monologe in Dichtform, ein kaum fassbarer Psychopathen-Held und dazu ein chaotisches Abenteuer-Leben, so unwirklich, als wärs ein schwerer Traum, in dem man nicht vorwärts kommt. Sein Abenteuer verschlägt ihn von Mutters Hütte ins mythologische Reich der Trolle, nach Afrika und wieder, als alter, gebrochener Mann, zurück. Obgleich er mit Solveig seine Lebensliebe trifft, rennt dieser "nordische Faust" zeitlebens jedem Rock nach.
Der junge Hamburger Regisseur Florian Fiedler (29) hat das Monster-Werk nicht geknackt, sondern es in vier Stunden teils flott, teils flüchtig nachspielen lassen. Er hat es auch nicht versucht, es zu knacken, denn für Ibsens grosse Lyrik ist der schauspielerische Atem hier zu klein. Fiedlers Personal ist zu "normal" für Ibsens Anlage. Sein Peer ist mit Aljoscha Stadelmann der dicke, undurchsichtige Junge, der nebenan allein mit seiner Mutti lebt und von den Anderen ausgestossen wird, und der deshalb immer noch einen mehr draufmacht als die Anderen.
Die seelische Grösse des Helden will Fiedler nicht mit seinem Normal-Peer sondern vielmehr mit der atemberaubenden Höhe des Bühnen-Raums vorführen. Während der Jugend und dem Alter Peers sitzen wir mit ihm auf der Bühne, in dieser riesig-hohen "Innenwelt". Darin erhalten alle Bilder auch gleich ihre traumhafte Bild-Entsprechung: Fiedlers eindrucksvollster Regie-Trumpf. Wenn Fabrikarbeiter sich zu Beginn darin tummeln, ist das das Gewimmel der inneren Vorgänge. Wenn Peer mit Ingrid in den Scheinwerfer-Balkonen herumkraxelt, dass einem beim Zuschauen vor Höhe schwindelt, sind das nicht bloss Höhen der Berge, sondern die der ersten sexuellen Lust.
Abgesehen von diesem Raum-Effekt braucht Fiedler viel Musik für die Schnitte und die Athmosphäre, damit das lange Abenteuer von Peers Leben nicht zu arg durchhängt. Bedeutungen werden kaum je in die Tiefe verfolgt. Einzige Überraschung: Solveig - Johanna Bantzer - verkörpert sie einfach und direkt ohne ironische Verkürzung.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Die Drei Schwestern"
Autor: Anton Tschechow
Regie: Matthias Günther
Mit: Susanne Abelein, Tjadke Biallowons, Zbigniew Bryczkowski, Urs Jucker, Markus Merz, Daniel Nerlich, Steven Scharf, Jörg Schröder, Edmund Telgenkämper, Lilly Marie Tschörtner, Susanne-Marie Wrage
Party-Gesellschaft der Spät-Pubertären
Sieht aus wie die Mensa eines Raumschiffs aus den Science-Fictions der sechziger Jahre: Auf der Bühne liegt ein Riesen-Rechteck aus Aluminium, kalt, weisses Licht, ein futuristisches Designer-Loft - darin sollen Tschechows drei Schwestern hausen. Das Drama um gescheiterte Lebensträume kann ja genauso gut heute spielen, scheint sich Regisseur Matthias Günther gedacht zu haben, und penetrant legt er dem Hausherrn Andrej die Platten von Frank Zappa in die Hände oder lässt Baron Tusenbach Beatles-Songs anstimmen. Die Bürger-Revolution der 68er hätten wir also hinter uns, und bei Tschechow um 1900 ist ja auch die Aristokratie zusammengebrochen: Dieser Hauruck ist der Grundgedanke für den unterhaltsamen Abend.
Wir sehen eine Party-Gesellschaft der Spät-Pubertären von heute, die viel schwatzt, sich verliebt, musiziert und nichts tut. Immer läuft was: Musikalische Einlagen, bedeutende Auftritte und Blicke, komplizierte Knutschereien, Backfisch-Stammeleien. In die Familie der reifen Generalstöchter Irina, Mascha und Olga drängt sich die kleinbürgerliche Natascha, die sich vom Bruder Andrej schwängern lässt, und die Stück für Stück das Familiengut übernimmt.
Nun sollen wir es hinnehmen, dass diese "heutigen" Leute sich noch immer duellieren, den Abzug der Offiziere aus der Kleinstadt beklagen, Männer in Zivil nicht sexy finden und es einfach nicht nach Moskau schaffen, obwohl die Schwestern da ja hin wollten. Ja, sollen sie doch die nächste Maschine nehmen! Was soll sie daran hindern?
Bei Tschechow hindert sie daran ein schwer durchdringbares Gewebe: Ein übermächtiger Vater mit gewaltigem psychologischem Nachhall, der die Töchter zu Befehl und Gehorsam aufzog. Oder: Die Frau als unselbständiges Wesen in einer patriachalen Gesellschaft. Oder: Der Aristokratie geht das Geld aus. Oder: Mangelnde Information. Von diesen sehr konkreten Beschränkungen, die Tschechow für jede einzelne Person bis ins Detail ausziselierte, ist in Basel nichts fühlbar.
Gerade die Schauspielerinnen verkörpern sich teilweise virtuos, aber jede Person auf der Bühne ist viel linearer als sie der Text vorsieht. Eine Wandlung ist aber nur bei Tusenbach (Nerlich) erkennbar, der sich im Duell töten lässt. Ursprünge? Fehlanzeige.
Konkretes Unausweichliches macht ein Drama still und schlimm: Genau das fehlt.
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"Ein unvergesslicher Abend"
Einspruch, Herr Bühler! Mir hat "Die drei Schwestern" sehr gut gefallen - und ich glaube, so ging es den meisten Besuchern der gestrigen Vorstellung. Der ausgiebige, begeisterte Schlussapplaus liess daran keinen Zweifel. "Die drei Schwestern" in einer "spät-pubertären Partygesellschaft" - diese Aktualisierung hat mich überzeugt. Tschechows Dialoge scheinen wie dafür gemacht. Die Inszenierung macht ernst damit, dass das "konkrete Unvermeidliche" in Tschechows Stücken nichts zu suchen hat. Ausserdem nimmt sie Tschechows Gattungsbezeichnung ernst: Er hat "Die drei Schwestern" eine Komödie genannt.
Einen herzlichen Dank an das ganze Ensemble für diesen unvergesslichen Abend. Ich werde ihn mir in den komenden Wochen sicher noch einmal gönnen.
Johannes Nordiek,
Schopfheim
"Fantasie des Publikums unterschätzt"
18. Dezember 2005, selber Ort, selbes Sück (les trois soeurs), gespielt im Rahmen des théâtre français. Das Stück, nur wenig aktualisiert, sehr einfaches Bühnenbild, behält die volle Aussagekraft von Tschechow. Ein guter Theaterabend, der es dem Publikum ermöglichte, mit seiner eigenen Fantasie Brücken zur Gegenwart zu schlagen. Warum wird im deutschsprachigen Theater die eigene Fantasie des Publikums so häufig unterschätzt?
Marie-Thérèse Jeker-Indermühle
Basel
"Viel Gschnurr um nüt"
Dem kann ich voll zustimmen. Einmal mehr bewahrheitet sich: Weniger ist manchmal mehr. Oder: Viel Gschnurr um nüt. Schade, hätte etwas unterhaltsamer sein können, mit ein paar Lachern mehr!
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Geschichten aus dem Wiener Wald"
Autor: Oedön von Horváth
Regie: Raphael Sanchez
Mit: Andrea Bettini, Wolfgang Brumm, Iris Erdmann, Rahel Hubacher, Martin Hug, Jürg Kienberger, Anne-Marie Kuster, Chantal Le Moign, Christoph Müller, Thomas Reisinger, Sandro Tajouri
Sex, Geld und Wiener Schmäh
Die Marianne ist zwar dem Metzger Oskar versprochen. Aber der Strizzi Alfred sieht nach mehr aus als der bigotte Fleischhauer. Also vollzieht sie mit dem Alfred auf der Bühne des Schauspielhauses den wohl längsten Kuss der Theater-Geschichte. Mehrere Minuten lang, bis es knisterte und zappelte im gut besuchten, gut gelaunten Auditorium. So lange, als wollte sie damit der Kleinbürger-Enge ihrer "stillen Strasse im achten Bezirk" entfliehen. Kein Zweifel, diese Aufführung wird ein letzter Erfolg der auslaufenden Aera Schindhelm.
Der Abend hat ja alles, was reizt: Sex, Witz, Gemüt, dummes Volk, böses Drama, gutes Ende. Die arme Marianne wird nach diesem längsten Kuss vom Vater verstossen, gerät mit Alfred in Armut, verliert ihr Kind und endet in einem Strip-Lokal. Aber Horváth hat extradick ein "Happy-End" draufgesetzt: Vater verzeiht ihr, Metzger Oskar heiratet sie doch. Und Alfred lässt sich wieder von der hypersexuellen Kioskfrau Valerie aushalten, bei der sich das halbe Quartier aufwärmt.
Regisseur Raphael Sanchez spielt zack-zack-zack seine drei grössten Lacher-Trümpfe aus. Trumpf 1: "Tröchni" Jürg Kienberger moderiert laut Horváths freche Regie-Anweisungen. Trumpf 2: Der Sanchez-Dreh: "Unbeobachtet" vergessen sich die Leute in völlig absurden Handlungen. Trumpf 3: Sanchez dreht jede Szene bis ins Groteske.
Aber dem bitterbösen Volksstück von 1931, in dem wir die schwarze Nazi-Zeit heranrollen hören, hat Sanchez die "Reisszähne" gezogen. Die Leute sind zu schweizerisch nett und zuwenig kalt in der derben Grobheit, damit die Lacher auch aus dem Erschrecken kommen könnten. Mariannes Spiesser-Vater ist bei Sanchez harmlos, bei Horváth tobt in ihm ein Monstrum, das auf dem vollen Heldenplatz aus Bitterkeit und Begeisterung "Sieg Heil" schreit. Die Sex-Szenen sind derart überdeutlich, dass dahinter Verzweiflung und Marktwert-Eifer verschwinden: So viel wirklichen Spass haben die bei Horváth nicht.
Sanchez' höheres Talent blitzt aber jenseits seiner Gags auf: Etwa wenn die besoffene Gesellschaft den Strip-Schuppen verlässt, der Scheiaweia erloschen ist und jeder in seinem Elend erkennbar wird das ist ein starker Theater-Moment.
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Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Winter"
Autor: Jon Fosse
Regie: Barbara Frey
Raum: Penelope Wehrli
Die Frau: Katja Reinke
Der Mann: Michael Neuenschwander
Langweilige Affäre
Es roch nach Bekenntnis im Foyer: Nationalrätin Silvia Schenker (SP) besuchte das zweite Mal in den letzten drei Jahren eine Schauspielpremiere, zusammen mit Baudirektorin Barbara Schneider (SP). Auch Regierungspräsident Ralph Lewin (SP) liess sich im Anzug sehen, und viele hatten ein belegtes Gesicht an dieser Stätte hysterisch umkämpfter Subventions-Millionen.
Ausgerechnet an diesem Premieren-Abend vermochte auch Basels Regie-Publikumsliebling Barbara Frey das Haus nicht ganz zu füllen. Aber sie erfüllte mit einer solide gemachten "Winter"-Aufführung des integren Norweger Jon Fosse die tapfer gehegten Wünsche nach Bestätigung, dass Basels umstrittenes Schauspiel doch sicherlich ein Ort gepflegten Humanismus und somit unterstützungswürdig sei. Zu guter Letzt hüpfte nach Verrauschen des Applauses Theaterdirektor Michael Schindhelm auf die Bühne, um das Publikum aufzufordern, Politiker für das Theater anzugehen und es vor allem auch zu besuchen ...
Die Aufführung allerdings vermochte die Subventionsstreit-Geister weder zu bannen noch in einen Feuersturm für die grösste Kultur-Institution der Nordwestschweiz zu reissen. Im Gegenteil: Im erstickend kalt präparierten Bühnen-Raum zeigte ein Schauspiel-Duett spröde eine etwas langweilige Affäre.
Ein grüner Billard-Filz der Boden, links eine riesige Fensterwand: Die leere, düstere Bühne sieht enorm riesig aus mit den beiden hilflosen Menschlein und ihrer Zufallsbegegnung, die von der Parkbank ins Hotelzimmer führt und von da aus
ja, wohin? Das Stück "faded" aus. Was durchkommt: Zwei Menschen treffen sich mit ihrem enormem Zärtlichkeitsdurst, er ein Familien-Bünzli auf Dienstreise, sie die grosse Unbekannte und heilige Huren-Mysteriöse.
70 Minuten lang gehts so: "Du,
nichts" oder "Vielleicht
, ich weiss nicht ganz, ich sollte
" oder "Verdammt, ich rede mit Dir". Ein brandgefährlicher Text: Ein Meer voller Eisberge. Die Stammeleien sind nur kleine Zeichen monströser seelischer Unterbauten. Aber im Basler Schauspielhaus klingt der Text nicht frisch und brüchig. Vielmehr bleibt er ein Dickicht: Mal elegant zu nehmen, mal sperrig zu verstehen.
Reinke und Neuenschwander kamen mit dem Segen der Regie drum herum, die abrupten Wendungen innerlich mitmachen zu müssen. Diese abstinente Oberflächlichkeit killt die Verbindlichkeit, und zwar auch jene, die die Leute ins Theater zwänge.
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Hochgenuss |
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Theater Basel, Grosse Bühne
Premiere
"Das Goldene Vlies"
Trilogie: Der Gastfreund, Die Argonauten, Medea
Autor: Franz Grillparzer
Regie: Lars-Ole Walburg
Bühne: Hugo Gretler
Mit Andrea Bettini, Chantal Le Moign, Sandra Hüller, Christoph Müller, Jörg Schröder, Sandro Tajouri, Edmund Telgenkämper, Lilly Marie Tschörtner, u. a.
Vier Stunden Tod und Entsetzen
Auch den Match Türkei-Schweiz gesehen? Die Ausschreitungen? Den Fanatismus? Haben Sie auch ein klein Bisschen mit sich gerungen: Die Türken als das ("halt doch") Dunkle, das Unbeherrschte, das Gewalttätige? Und wir: Das Helle, Ehrliche
bis auf den Fusstritt Huggels
? Unangenehm, nicht? Und da sagen wir, wir hätten das alles hinter uns, was die alten Griechen etwa mit der Medea-Sage schaurig besangen, von Fremdheit, Rache, Hass, Blut und Boden, und den Krieg um das goldene Pokal-Vlies! Nur gerade einen Abend danach setzt Regisseur und Schauspiel-Chef Lars-Ole Walburg sie uns im Basler Theater vor. Aber um wie viel protestantischer und harmloser!
Die raue dunkle Kolcherin Medea ist hier die melodramatische Keltin Sandra Hüller. Und wenn der ruppige Kriegsheld Jason fragt: "Wo sind die Kinder?", steht vor uns statt dessen mit Edmund Telgenkämper der etwas schwammige Papi. Dies soll die Unbändigste aller unmöglichen Lieben sein? So bürgerlich und tranig?
Der Regisseur wollte es so. Ihm gings nur um die Moral der Geschicht beim Krieg Griechen-Türken, Mann-Weib, Hell-Dunkel: Das Dunkle rächt sich, wenn sich das Helle ihm überhebt. Sind das nicht austauschbare Vorzeichen? Der Grieche Jason erobert das goldene Vlies von den dunkeln Kolchern zurück und dazu die Kolcherin Medea. Die Griechen stossen aber die Barbaren-Zauberin aus. Sie rächt sich. Sie bringt ihre Nebenbuhlerin um, setzt das Königshaus in Brand und erdolcht ihre beiden Buben. Tod, Entsetzen, dunkle Magie, Liebesleidenschaft und Fluch über Fluch: Das hält über die vier Stunden hin, und zwar völlig mühelos. Kein Raschler gabs im (nicht vollen) Auditorium, und beim Applaus aber Getrampel für Hüller und Telgenkämper.
Ein hoher Stahlsteg steht im Wasser bei den Kolchern. Bei den Griechen ist ein hoher Gittervorhang Korinths Stadtmauer. Statt innere dunkle Kräfte aus den Figuren zu holen, setzt Walburg die Bühne in dunkles Schwarz-Weiss. Aber ohne diese dunkeln Triebkräfte geraten die Liebesszenen süss, kitschig und vernünftig. Bei Grillparzer sind sie brutal, radikal und herrlich unwillkürlich. Dazu passt: Fast niemand beherrscht die sprachliche Plastik auch im Sturm der Emotion. Statt Intensität gibts oft Geschrei, Gegreine.
Das Gute: Walburg hat sich auf den schönen harten Text verlassen. Das Ensemble, insbesondere Hüller, hat viel und konzentriert gearbeitet.
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Hochgenuss |
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sehenswert |
** |
nun ja |
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ärgerlich |
Ihre Meinung?

ECHO |
"War es jetzt gut oder sind Sie enttäuscht?"
Lieber Herr Bühler, ich wollte mir heute ein Bild machen über die gestrige Vorstellung und bin ob Ihrer Kritik etwas ratlos. War es jetzt gut (3 Sterne) oder sind Sie enttäuscht? Ich bin mir nicht sicher hat es Ihnen gefallen?
Ich werde nach meinem Theaterbesuch wahrscheinlich besser verstehen, was Sie mir sagen wollten auf jeden Fall haben Sie mich neugierig gemacht.
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Frühere Premiere-Besprechungen |
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