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© Foto by zvg

"Berge beeinflussen den Blick": Werk von John Ruskin
Bilder von Bergen, Berge von Bildern
Eine Ausstellung in Zürich untersucht den Einfluss der Alpen auf die Wahrnehmung und das Denken
VON AUREL SCHMIDT
Im Katalog zur Ausstellung "In den Alpen" im Kunsthaus Zürich schreibt Tobia Bezzola, wie die Bergwelt gesehen werde, hänge "von der Erschliessung des überhaupt Sichtbaren" ab. Was wir wahrnehmen, ist auf die Sehgewohnheiten zurückzuführen, die sich im Lauf der Zeit ändern. Die Alpen sind immer wieder anders gesehen worden. Sie waren zuerst fürchterlich, dann erhaben, später wurden sie erobert, heute sind sie das Opfer einer rasenden Entwicklung und müssen geschützt werden.
Es kommt hinzu, dass die Sehgewohnheiten verschiedenen Einflüssen unterliegen, zum Beispiel den technischen Mitteln, um sie wiederzugeben. Das älteste Werk in der Zürcher Ausstellung gibt eine intime Ansicht des Glärnisch aus dem Jahr 1655 auf einer grau lavierten Kreidezeichnung (37,5 x 47,5 cm) von Conrad Meyer wieder. Eines der jüngsten Werke ist ein Leuchtkasten von Tobias Madörin, der auf einer Fläche von 180 x 420 cm den Bachalpsee pompös zeigt. Bei diesen Massen kann man vier gewaltige Schritte zurücklegen. Die moderne Fotografietechnik erlaubt es, Wirkungen zu erzielen, die atemberaubend sind. Meyer und Madörin vermitteln durch die medialen Möglichkeiten zwei völlig konträre, aber zeitbedingte Sichtweisen.
Das Kriterium, um Schönheit festzustellen
Die Frage kann aber auch umgekehrt werden: In welchem Ausmass haben sich die Berge auf die Art zu sehen ausgewirkt. Zwei Beispiele dazu. In der ersten Fassung des "Grünen Heinrichs" schrieb Gottfried Keller die fast prophetischen Worte: "Nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen". Was so interpretiert werden kann, dass die Berge die Schweiz beziehungsweise das Denken der Menschen in diesem Land geprägt haben. Noch heute sieht die Tourismusindustrie die Alpen als Kapital an.
In den gleichen Kontext passt auch die Aussage des englischen Kunstwissenschafters John Ruskin (1819-1900, übrigens einem grossen Wanderer in der Schweiz) im vierten Band von "Modern Painters", wo er die Feststellung macht, dass das Kriterium, um Schönheit festzustellen, von den Bergen abgeleitet werden kann. Es lag für ihn "in dem sanften Abhang von Matten, Gärten und Kornfeldern an der Seite eines grossen Berges". Der Neigungswinkel der Berghänge, um den Begriff Schönheit zu definieren - man denke!
Imagologie als Stich- und Zauberwort
Ob also zuerst die Sichtweisen und Ideen waren und dann die Berge, oder ob umgekehrt die Berge den Sichtweisen, Ideen und Bildern vorausgegangen sind, ist eine Standpunktfrage.
Wenn es etwas gibt, das die Zürcher Ausstellung deutlich macht, dann ist es die Tatsache, wie sehr Berge den Blick beeinflusst haben. Das Ergebnis ist eine Imagologie, die als mentalgeschichtlicher Befund zu verstehen ist. "Imagologie" war das Stich- und Zauberwort einer Tagung über die "erfundene Schweiz" 1992 in Luzern. Gemeint war damit ein Archiv von Ansichten, Bildern, Vorstellungen, Ideen, die die Menschen erfinden, um besser zu verstehen, was sie bewegt.
Wirkung von Entsetzen und Entzücken
Zu diesem Resultat kommt die Ausstellung in Zürich - und dies auf eine starke Weise. Sie beginnt zwar, erstaunlicherweise, mit alpinen Wüsten und Katastrophen, die es immer gegeben hat, und lässt auch in ihrem weiteren Verlauf den erhabenen Charakter der Alpen, also die im gleichen Moment Entsetzen und Entzücken auslösende Wirkung, die von ihnen ausgeht, etwas vermissen. "Das Rosenlauital" von Alexandre Calame (1856) muss fast die ganze Last tragen.
Man merkt dann aber, wenn man durch die Ausstellung schreitet, bald, wo es entlang geht und worauf es hinausläuft. Die Schau umfasst alte Karten, unter anderem die "Reisekarten der Schweiz" von Heinrich Keller aus den Jahren 1823 und 1833, mit denen unzählige Touristen ihren Weg durch die Schweiz gesucht (und erstaunlicherweise gefunden) haben; alte Stiche und historische Drucke (Unspunnenfest 1808); Leporello-Panoramen (die zu ihrer Zeit als "Massenspektakel" angesehen wurden); Appenzeller Volksmalerei, populäre Malerei, Sonntagsmalerei sowie Beispiele grosser Kunst (von Doré bis Ruskin, Turner und Wolf); ferner Filme; Reliefs; alte Fotoalben und so weiter. High & low durcheinander.
Sehr schön kann der Wandel in der Betrachtungsweise auch am Atlas der Schweiz mit digitalisierten dreidimensionalen Modellen verfolgt werden, der neue Wege der Kartografie beschreitet. Ein entzückendes Ausstellungsobjekt ist auch ein Film, der stereoskopische Fotografien der Schweizer Alpenwelt aus dem Jahr 1901 verwendet und aneinander reiht.
Das Sammelsurium als Erkenntnismethode
Man hat es also mit einem Sammelsurium im besten Sinn des Wortes zu tun, das als Erkenntnismethode gute Dienste leistet, weil es zeigt, wie sehr die Berge das Denken der Menschen bis in die geheimsten Winkel infiziert und inspiriert und eine unübersehbare erfinderische, schon beinahe explosive Bilderflut ausgelöst haben. Nur der Platz, den die Berge in der Werbung einnehmen, ist dabei etwas dürftig ausgefallen - was für imagologische Fundstücke hätte es da gegeben!
Die Ausstellung führt vor, wie Berge auf Hunderte von Arten in Bilder verwandelt werden können und das Gehirn bei der Bearbeitung, Interpretation und beim Einsatz dieser Bilder operiert. Man muss sich das Kunsthaus wie eine riesige Gedächtnismaschine vorstellen, in dem dieser Bilderschatz zur Zeit aufbewahrt wird.
Kunsthaus Zürich, bis 2. Januar 2007. Katalog, der eine Auswahl der Exponate einzeln vorstellt, kostet 39 Franken. Weitere Auskunft www.kunsthaus.ch
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