Foto © Claude Giger ![]() "Grundlegendes muss sich ändern": Psychologie-Professor Udo Rauchfleisch Priester-Sex mit Kindern: Die Mitschuld der katholische Kirche Die Rolle der Kirche an den Vergehen ihrer Würdenträger und ihr Versuch, die sexuelle Ausbeutung herunterzuspielen VON UDO RAUCHFLEISCH Nicht nur in den USA, auch in der Schweiz wächst dramatisch die Zahl bekannt gewordener Fälle, in denen sich Priester an Kindern in teils schwerer Weise vergangen haben. Udo Rauchfleisch, Extraordinarius für Klinische Psychologie an der Universität Basel und Autor zahlreicher Publikationen, äussert sich im folgenden Aufsatz kritisch zur Verantwortung der katholischen Kirche für die sexuelle Ausbeutung durch ihre Würdenträger. Das Bekanntwerden einer erschreckend grossen Zahl von sexuellen Übergriffen gegenüber Kindern durch Priester hat in den vergangenen Wochen in den USA und in verschiedenen europäischen Ländern, so auch in der Schweiz in Walenstadt, für Schlagzeilen gesorgt. Diese Häufung zeigt, dass das sonst von der katholischen Kirche gerne verwendete Argument, es handle sich um "Einzelfälle" - und daraus wird der Schluss gezogen, die Ursachen lägen nicht in grundsätzlichen Problemen der Kirche, sondern seien rein individueller Art - nicht zutrifft. Höchst befremdlich und der Bischöfe unwürdig erscheint mir auch der Versuch der Schweizer Bischofskonferenz, die Brisanz des Themas mit dem Argument herunterzuspielen, die Anzahl von Pädophilie-Anklagen sei bei Priestern proportional geringer als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Was liegt der sexuellen Ausbeutung von Kindern zugrunde? Ich spreche absichtlich nicht von "Pädophilie", da mit diesem Begriff ("philie" = Liebe) die Gewalt, die durch sexuelle Übergriffe ausgeübt wird, verschleiert und verharmlost wird. Wir verwenden deshalb heute eher die Bezeichnung "Pädosexualität", wobei dieser Begriff allerdings den sexuellen Aspekte einseitig in den Vordergrund stellt, oder wir sprechen noch treffender von "sexueller Ausbeutung". Ein Problem bei der Beurteilung pädosexueller Handlungen liegt darin, dass wir es nicht mit einem einheitlichen Persönlichkeitstyp, sondern mit unterschiedlichen Persönlichkeiten zu tun haben. Es ist deshalb auch nicht möglich, eine für alle diese Menschen in gleicher Weise
Pädosexuell ist nicht homosexuell Eine erste wichtige Differenzierung ist in bezug auf die sexuelle Orientierung zu machen: Mehrheitlich werden pädosexuelle Handlungen von heterosexuellen Männern gegenüber Mädchen ausgeübt, eine kleinere Zahl von Tätern weist eine gleichgeschlechtliche Orientierung auf. Diese Tatsache ist insofern wichtig, als in der Öffentlichkeit das Phänomen "Pädosexualität" häufig mit "Homosexualität" gleichgesetzt wird, was den Tatsachen nicht gerecht wird und eine Verunglimpfung gleichgeschlechtlich empfindender Männer bedeutet. Ein zweiter Aspekt bei der Beurteilung pädosexueller Handlungen liegt in der Frage, welche Rolle die Gewalt dabei spielt. Die Begriffe "Pädophilie" und "Pädosexualität" verschleiern hier wieder die Realität, während "sexuelle Ausbeutung" sie beim Namen nennt: Auch wenn die Täter gerne den liebevollen Aspekt in den Vordergrund stellen - so sprach der Posener Erzbischof Paetz angesichts der gegen ihn gerichteten Vorwürfe davon, seine "Güte und
Sexuelle Ausbeutung durch Priester: Not des Zwangszölibats Bei Abweichungen des Verhaltens von den Postulaten der katholischen Kirche wird, vor allem wenn es um Priester geht, gerne von "Einzelfällen" gesprochen und ein Zusammenhang mit den Strukturen der Kirche strikt verneint. So hat die Schweizer Bischofskonferenz auch bei den jüngsten Vorfällen ausdrücklich in Abrede gestellt, dass ein Zusammenhang zwischen den sexuellen Übergriffen von Priestern und dem Zölibat bestehen könne. Bei der Beurteilung dieser Übergriffe sind drei Fragen zu prüfen: 1. Warum richten sich sexuelle Übergriffe von Priestern offensichtlich häufiger gegen Knaben als gegen Mädchen? Ich gehe hier von der - allerdings nicht belegten - Annahme aus, dass Übergriffe gegenüber Knaben und Mädchen von
2. Haben wir es bei den Übergriffen von Priestern wirklich mit Handlungen pädosexuell orienterter Männer zu tun? Unter den Tätern befindet sich vermutlich ein nicht geringer Anteil von Männern, die in der Not, in die sie durch den Zwangszölibat geraten sind, den "Weg des geringsten Widerstandes" gehen und sich den Kindern als den Schwächsten nähern. Die besondere Tragik liegt darin, dass hier Menschen durch die Strukturen der Kirche zu Handlungen gedrängt werden, die sie unter anderen, "normalen" Lebensbedingungen nie ausgeübt hätten! 3. Lassen sich diese Übergriffe nur auf der individuellen Ebene erklären, oder muss hier nicht auch die Struktur der katholischen Kirche auf ihre Mitschuld hin kritisch untersucht werden? Mit der Erwähnung des Zwangszölibats ist bereits ein Zusammenhang mit der Institution Kirche genannt. Gewiss gibt es Priester, die in der Lage sind, unbeschadet und konsequent ein zölibatäres Leben zu führen. In Anbetracht der heute in unserer Welt geltenden Normen und Verhaltensweisen fällt dies vielen Priestern aber schwer, worauf beispielsweise die in der Vereinigung ZöFra zusammengeschlossenen Frauen wiederholt hingewiesen haben. Die sexuellen Übergriffe sind Ausdruck und Ventil des Drucks, unter den viele Priester geraten. Insofern ist die katholische Kirche, die diesen Druck erzeugt, mitschuldig an den Übergriffen und lässt die Priester einmal mehr schmählich im Stich, wenn sie, wie die Schweizer Bischofskonferenz, betont, die sexuelle Ausbeutung durch Priester habe nichts mit dem Zölibat zu tun. Kirche muss lebensfeindliche Postulate hinterfragen Was ist zu tun? Drei Dinge erscheinen mir von vorrangiger Bedeutung: Die Opfer müssen als solche anerkannt werden und Hilfe finden. Dabei reichen finanzielle Wiedergutmachungen nicht aus, die sich nach Pressemeldungen in den USA bereits in Millionenhöhe bewegen - ganz abgesehen von den "Schweigegeldern", die die Kirche gezahlt hat, um die Opfer mundtot zu machen!. Es kommt vielmehr auf eine effiziente, fachkundige Hilfe bei der Verarbeitung der durch die Übergriffe erlittenen Traumatisierungen an, die gerade deshalb besonders schwer wiegen, weil sie von Menschen ausgeübt worden sind, zu denen ein Vertrauensverhältnis bestanden hat und die als "Männer Gottes" eine ganz besondere Rolle im Erleben der Kinder gespielt haben. Opfer und damit therapeutischer Hilfe bedürftig sind aber auch die Täter, die in einem sie schädigenden, ihre Persönlichkeit "verbiegenden" System leben, das sie gerade dann im Stich lässt, wenn Hilfe am dringendsten angesagt ist. Letztlich ist eine effiziente Änderung der Situation und die Verhinderung weiterer Übergriffe aber nur möglich, wenn die Leitenden in der Kirche bereit sind, überholte (Macht-)Strukturen und lebensfeindliche Postulate kritisch zu hinterfragen und zu verändern. Insofern macht es sich auch Papst Paul II zu einfach, wenn er in seiner vorösterlichen Botschaft von der "Macht des Bösen" sprach, der "einige unserer Mitbrüder" nachgegeben hätten. Es geht gerade nicht um den einzelnen Priester, sondern um die Strukturen der Kirche als Ganze. Erst wenn sich hier Grundlegendes ändert, kann auch in der Kirche ein entwicklungsfördernder, den Menschen in seiner leibseelischen Existenz - zu der auch die Sexualität als göttliches Geschenk gehört! - akzeptierender Raum geschaffen werden. Dieser Aufsatz wurde erstmals im "St. Galler Tagblatt" publiziert.
2. Mai 2002 |
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