Foto © Claude Giger ![]() "Kein Ort für Draufgänger": Rega-Retter im Einsatz Ein Wettflug über die entscheidende Viertelstunde Reportage über einen ganz gewöhnlichen Tag der Schweizerischen Rettungsflugwacht VON ELSBETH TOBLER Ob eine Bluttat wie der ungeheuerliche Amok-Anschlag auf Regierung und Parlament des Kantons Zug, ob ein alltäglicher Verkehrsunfall mit Schwerverletzten oder die Versorgung einer abgeschnittenen Berggemeinde - stets ist die Schweizerische Rettungsflugwacht (Rega) zur Stelle. Primärversorgung und der Transport von lebensbedrohlich erkrankten und schwer verletzten Menschen sind ihre zentralen Aufgaben. Unterwegs mit dem Einsatzteam der Rega-Basis Basel. In dieser Nacht stirbt ein Mann, erst 48. Der Notarzt und die Helfer sind machtlos, denn die Stichverletzungen sind zu tief. Der Täter, der ihm diese Wunden zugefügt hat, überlebt verletzt. Nach zwei Stunden ist der Einsatz für die Ambulanzcrew und die Rega-Luftretter beendet. Doch die Bilder sind sie damit nicht los. "An anderen Tagen geht es nicht so tragisch zu", erklärt Bereitschaftsarzt Ramon Dörig*. Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag, sondern ein trauriger. Rega-Basis Basel, 7.30 Uhr. EuroAirport. Ein Geruch von Kaffee hängt in der Luft. Das Frühstück wartet. Piepser, Funkgeräte und Mobiltelefone sind empfangsbereit. Das Rega-Team neben Dörig (37) der Pilot und Basisleiter Manfred Stöhr (40) sowie Rettungssanitäter Manfred Glockner (47) schlüpft in seine feuerroten Overalls. Die Letzteren sind schon alte Hasen im Rettungsdienst. Für Ramon Dörig ist es aber erst der vierte Einsatztag. "Moll, nervös bin i scho", tönt es im Ostschweizer Dialekt. Verständlich, dass das Adrenalin ansteigt, als der Piepser schrillt. Die Zürcher Rega-Alarmzentrale meldet einen Arbeitsunfall: Ein junger Mann ist von einem Telefonmast gestürzt. Sprint zum Hangar. Weniger als fünf Minuten nach Eingang des Notrufs hebt der 1500-PS-Heli ab. Drei Einsätze pro Tag Mit 240 km/h steuert die "Agusta" Richtung Brugg. "Durchschnittlich fliegen wir täglich drei Einsätze", erklärt Stöhr. "Grenzen setzt uns höchstens die Witterung." Heulend setzt der Hubschrauber 15 Minuten später auf einem gemähten Kornfeld auf. Bepackt mit Notfallkoffer, Sauggerät und Medikamententasche eilen die Retter zum Verunglückten, der im Garten eines Bauernhauses bereits auf einer Vakuummatratze liegt. Notarzt Dörig leitet zusammen mit Manfred Glockner und dem anwesenden Ambulanzteam lebenserhaltende Massnahmen ein. Nach 20 Minuten sind Atmung und Kreislauf des Verletzten stabilisiert. Behutsam wird er auf einer Trage in den Heli geschoben. Die Version "K2" der "Agusta A-109" wurde 1992 speziell für die Rega und ihre medizinischen Bedürfnisse entwickelt. Klein, wendig und schnell, damit der Pilot auch auf einer Fläche von 25 mal 25 Metern starten und landen kann, und doch so gross, dass für die Erstversorgung und den Transport alles vorhanden ist. An Bord überwachen Notarzt und Rettungssanitäter die Vitalfunktionen des Patienten. Der Defibrillator liegt als wichtiges Hilfsmittel für den Fall einer Reanimation bereit. 400 Schweizer Kliniken empfangsbereit "Warum gerade ich?", seufzt der 18-jährige Verunglückte. Dörig beruhigt ihn. "Im Notfalldienst baut sich oft eine schnelle, aber sehr intensive Beziehung zum Patienten auf", so der Notarzt. Aber wie hält man die tägliche Nähe zum Leid anderer Menschen aus? "Wir brauchen einen Schutzmechanismus. Denn emotionales Engagement ist immer dabei. Ganz schlimm war es für mich, als ein Kind von einem Auto überrollt wurde." Gesprochen
Über Funk meldet Manfred Stöhr inzwischen den Verletzten im Kantonsspital Aarau an. In der Schweiz können rund 400 Kliniken angeflogen werden. Nach zehn Minuten Flug landet der Heli auf dem Dach des Krankenhauses. Der Patient wird bereits erwartet und sofort in den Schockraum gerollt. Das Rega-Team ist erst mal erleichtert. Später erkundigt sich Dörig nach dem Befinden des jungen Mannes. Diagnose: Thoraxtrauma, Herz- und Lungenquetschung, verschiedene Frakturen aber keine Lebensgefahr. "Trotz allem Glück gehabt!" Notärzte - die ganz Harten? Notarzt, das ist ein Job auf Abruf. Zwischen 60 und 70 Stunden leistet Ramon Dörig wöchentlich auf der Rega-Basis Bereitschaftsdienst. Neben den Einsätzen gibt es jede Menge Papierarbeit. Rapporte sind zu schreiben. Statistikformulare auszufüllen. Grenzen der Belastbarkeit? "Fühle ich mich nicht einsatzfähig, lasse ich mich sofort vertreten. Das ist im Rega-Vertrag so festgelegt." Ausgleich sucht der gebürtige Goldacher an den freien Tagen ausserhalb der "baselstädtischen Enge", beim Joggen und Radfahren in seiner zweiten Heimat in Schachen bei Herisau. Ab und zu lebt er seinen Bubentraum, setzt sich hinter die Steuerknüppel eines gemieteten Helis und hebt ab. Sonst macht er nicht viel Wind um sich. Nüchtern zieht er Bilanz: "Medizinstudium in Zürich. Stationen in verschiedenen Regionalspitälern. Unter anderem in der Chirurgie und der Inneren Medizin." Er fuhr auch 40 Einsätze mit der Notfallambulanz. 1999 Anstellung auf der Anästhesie im Kantonsspital Basel. Inzwischen erfüllt Ramon Dörig die Voraussetzungen für den Fähigkeitsausweis SGNOR (Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin) und wird sich damit zum Notarzt qualifizieren. Dieses Reglement definiert die Notarzt-Weiterbildung und trägt zur Qualitätssicherung im Rettungswesen bei. Luft- und Bodenrettung ergänzen sich Kurz vor Mittag wird unser Gespräch abrupt unterbrochen: Ein älterer Mann im südbadischen Raum braucht wegen symptomatischen Herzrhythmusstörungen sofort Hilfe. Nach der Erstversorgung durch Ramon Dörig wird der Patient mit dem Rettungswagen in die nächste Klinik gefahren. Bei diesem Primäreinsatz geht es in erster Linie darum, möglichst rasch eine Notärztin oder einen Notarzt am Ort des Geschehens zu haben. Und um bei Bedarf einen schnellen und schonenden Transport mit dem Heli zu garantieren. So hat die Rega im nahen Ausland, in unwegsamem Gelände sowie in ländlichen Gebieten mit geringer Ärztedichte eine höhere Einsatzfrequenz. Grund: Die Ambulanz hat auf dem Land vielfach keinen Notarzt dabei. "Oft arbeiten wir bei Katastrophen, Verkehrs-, Berufs- und Sportunfällen mit mehreren Verletzten mit einem parallel alarmierten bodengebundenen Rettungsdienst zusammen", erläutert Wolfgang Ummenhofer, leitender Arzt der Anästhesie des Kantonsspitals Basel und Chef der Basler Notärzte. "In solchen Situationen ist es auch sinnvoll, mehrere Helis einzusetzen. Vorteil: Die Patienten können innert kurzer Zeit auf verschiedene Spitäler verteilt werden." Die Situation der fehlenden Notärzte bei der Ambulanz in ländlichen Gebieten hat auch Pilotprojekte wie etwa die Initiative "der Arbeitsgemeinschaft der Notärzte Baselbiet (ArgeNazBL)" und "Remedur" im Kanton Zürich ins Leben gerufen. Über diese bieten die Sanitätsnotrufzentralen 144 bei Bedarf zusätzlich ein Notarzt-Einsatzfahrzeug auf. Rega-Regel: Binnen 15 Minuten vor Ort Zurück auf der Basis zieht Manfred Glockner die "Agusta" in den Hangar. Manfred Stöhr tankt. Ramon Dörig füllt den Notfallkoffer auf. Inzwischen ist es 14 Uhr. Die Crew könnte jetzt einen Imbiss gebrauchen. Ein etwas abgewetzter gelber Rega-Mercedes steht zur Fahrt ins Personalrestaurant bereit. Doch aus dem Lunch wird nichts. Alarm aus dem Bodenseegebiet. Ein älterer Mann mit Herzinfarkt muss von einem Krankenhaus in eine Herzklinik verlegt werden ein so genannter Sekundärtransport. Indikation ist der schlechte Allgemeinzustand des Patienten. "Unser Alltag hat wenig mit TV-Action zu tun", sinniert Dörig. Das belegt auch ein Blick in die Statistik. Rund 600 Menschen sterben jährlich auf Schweizer Strassen. Etwa 12'000 erliegen einem plötzlichen Herztod. Die Notärzte haben sich auf diese Tatsache eingestellt. "Die Patienten werden nicht wie früher nur abgeholt und schnell ins nächste Krankenhaus gebracht. Ihre Therapie beginnt bereits mit dem Eintreffen der Ambulanz und
Die Suche nach dem ultimativen Kick fordert ihre Opfer Als in den fünfziger Jahren der Flugrettungspionier Hermann Geiger zu seinen ersten Gletscherlandungen ansetzte, ahnte er wohl nicht, welchen Stellenwert die Luftrettung einmal einnehmen würde. 8'194-mal haben die 14 Helikopter der Schweizerischen Rettungsflugwacht im vergangenen Jahr schnelle ärztliche Hilfe gebracht. Über 1'336 Rückführungen in die Heimat per Jet wurden registriert. Tendenz steigend nicht, weil die Menschen immer öfter krank werden, sondern weil die Zahl der Auslandsurlauber ständig zunimmt. Dörig wundert sich über den Leichtsinn und die Einstellung vieler Menschen. Denn aus den Helikopter-Einsätzen lassen sich Trends ablesen. Dominierten früher Ski- und Bergunfälle, fordern heute Fun-Sportarten wie Canyoning, Bungeejumping oder Eisfallklettern zunehmend ihre Opfer. Seit Jahresbeginn musste die Rega 78 Gleitschirmflieger mit Winde und Horizontalnetz retten. Ein für den Arzt nicht ungefährliches Manöver, das regelmässiges Training erfordert. Zum Rega-Alltag gehören auch Vermisstenmeldungen: Wanderer, die schlecht ausgerüstet auf Freizeittour gehen und nicht zurückkehren. Andere treiben ihr Büroangestelltenherz zu Akkordleistungen oder schätzen das Bergwetter falsch ein. "Die Leute verlassen sich auf die Rettungsdienste", betont Ramon Dörig. "Und sie wiegen sich mit dem Handy in falscher Sicherheit. Sie denken nicht an die Funklöcher und an einen eventuell leeren Akku." Rettungseinsätze sind aber nicht nur körperlich anstrengend. Ebenso schwer können die psychischen Belastungen sein. Dass auch Helfer bei ihrem harten Einsatz Zuspruch benötigen, ist für Wolfgang Ummenhofer keine Frage. "Kompetenz und Erfahrung helfen zwar bei der Bewältigung von Extremsituationen. Doch manche Erlebnisse holen uns noch nach Wochen wieder ein. Kein Ort für Draufgänger Dann kommen die Zweifel: Habe ich alles richtig gemacht?" Wichtig sei deshalb das Debriefing nach schwierigen Einsätzen. "Draufgänger sind in diesem Beruf fehl am Platz", stellt Ummenhofer fest. "Vielmehr zeichnet sich der Notarzt durch Sensibilität und Teamfähigkeit aus." Bei aller Dramatik: Die Rega rückt auch mal zu Extratouren aus, beispielsweise zur Bergung von Tieren. So wurden 300 Schafe evakuiert. Natürlich ohne Notarzt. "Dafür flogen zwei Schafe mehr im Netz mit", rechnet Wolfgang Ummenhofer vor. Zurück auf der Rega-Basis. Es ist 1.30 Uhr. Der Schreibtisch fordert noch seinen Tribut. Dafür bleibt es die Nacht über ruhig. Bis zum Schichtwechsel am kommenden Morgen. *Zurzeit bereitet sich Ramon Dörig auf die FMH-Facharztprüfung vor und leistet keine Rega-Einsätze.
2. Oktober 2001 |
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