Glosse

Titanic virtuell


Im April 2002 soll also in Southampton die "Titanic II" erneut von Stapel laufen. Eine schweizerisch-amerikanische Gruppierung bemüht sich um den Neubau des gigantesken Ungetüms.

Allerdings, so hört man, gedenke auch ein südafrikanisches Konsortium auf der Mythen-Welle zu reiten. Und neuerdings behauptet ein deutscher Tüftler, seine "Titanic"-Pläne seien schon über ein Jahr alt. Das Know how sei da, nur fehle noch die Kleinigkeit von 600 Millionen Dollar.

Doch jetzt wenden Geschichtsforscher und Zeitgeist-sensoren ein, der grösste Mythos an der "Titanic" seien ihre Nachbaupläne. Weder könnten das Technik-Erwachen des jungen Jahrhunderts noch seine vergleichsweise bescheidenen Erlebnis-Ansprüche in eine Zeit transponiert werden, in der jede Belanglosigkeit schnurstracks zum "Ereignis" degrediert. Die reizüberflutete Luxus-Kundschaft aber verlange auf Deck einer "Titanic II" alle Facetten des Event-Marketings - von Wellness über Sport und Konsum bis Laser-Show.

Kann sich unter solchen Prämissen im Bauch überhaupt ein wirklich prickelndes Pionier-Gefühl festzurren? Wenn die "Titanic II" den nostalgischen Nervenkitzel nur etikettiert, nicht aber wirklich auslöst, dann muss schleunigst über zeitgemässe Alternativmodelle nachgedacht werden.

Mein Vorschlag: Die neue "Titanic" gleitet nicht real über die Fluten des Nordatlantiks, sondern virtuell - ohne jedes finanzielle Risiko, dafür auf Stand der Technik und mit garantiertem Kick!

Im Datenkleid der Jahrhundertwende bewerben Sie sich um ein Ticket, das vielleicht 80 Franken statt 100'000 kostet, legen sich als Avatar ein künstliches Antlitz zu und flanieren dann auf Basis der VRML-Norm über Heck und Deck der "Titanic". Aufregung inbegriffen: Vom Beischlaf im Rettungsboot über die zur Superparty ausartende Notfallübung bis zum blinden Passagier.

Da noch 2'000 andere fantasievolle Multi User das Bord mit Ihnen teilen, folgen sich Ueberraschungen Schlag auf Schlag - von der Erosion Ihres Bildschirms bis zum Showdown südlich von Neufundland, den Sie dank geschickter Vorentscheide trockenen Hauptes und nüssliknabbernd überleben.

Falls der Kitzel noch nicht reicht, kann die Spannung mit einer Finesse der dritten Art verdichtet werden: Während Sie Ihre abenteuerlichen Ausschweifungen in der Virtuellen Realität ausleben, wird in Ihrer Wohnung - freilich nur gegen einen bescheidenen Aufpreis - real eingebrochen.

2. Juni 1998

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(c) by Peter Knechtli