Der total schmerzfreie Wirkstoff-Test Zwei Basler Wissenschafter ersetzen Tierversuche durch virtuelle Experimente am Computer Wenn die beiden Basler Chemiker Angelo Vedani (45) und Peter Zbinden (39) Medikamente gegen Alzheimer, Parkinson oder Herz-Kreislauf-Krankheiten testen, dann fliesst kein Blut und an Schmerzen leidet auch keiner. Höchstens eine Gattung ächzt: Die Computer. Im "Biografik Labor 3R" an der Basler Missionsstrasse erinnert wenig an ein herkömmliches Chemielabor. Viel eher mutet diese wohnraumähnliche Werkstatt wie ein Arbeitsplatz von Software-Spezialisten an. Auf den Bildschirmen zeigen sich dreidimensionale Molekülknäuel wie knallfarbige Wolkengebilde oder filigrane Stäbchen chemischer Strukturen. Das ist Computer Assisted Drug Design: "3R" steht für refine, reduce und replace - Belastung vermindern, reduzieren und ersetzen. Mit digitalen Werkzeugen werden heute pharmakologische Wirkstoffe an biologischen Rezeptoren oder Enzymen getestet, für die bis in die sechziger Jahre ausnahmslos Tiere hinhalten mussten. "Es galt das Prinzip trial and error", sagt Projektleiter Vedani. "Man hatte eine Idee und einen Wirkstoff und probierte ihn dann so lange an Tieren aus, bis man die Substanz mit der gewünschten Wirkung hatte." Noch 1960 mussten pro marktreifes Medikament durchschnittlich 10'000 Substanzen synthetisiert und davon rund tausend am Tier getestet werden. Dreissig Jahre später waren es noch knapp 1'000 Verbindungen, wovon 50 bis 100 im Tierversuch geprüft werden müssen. Dank den digitalen Techniken, die auch in Pharmafirmen und Hochschulen schon angewendet werden, sinkt die Zahl der Tierversuche in der Schweiz kontiuierlich. Die Gründe liegen nicht nur in einem neuen ethischen Bewusstsein, sondern ebenso in neuartigen Techniken wie Versuchsmodellen an Zellkulturen und Computern. Ob Asthma oder Aids, Krebs oder Kreislauf, Parkinson oder Schizophrenie, der Computer war bei der Entwicklung der meisten der heute auf den Markt kommenden Präparate dabei - egal, ob das Mittel geschluckt oder gespritzt wird. An Hochleistungsrechnern vollziehen Wissenschafter wie Vedani und Zbinden die Erkenntnis nach, die der deutsche Chemiker und spätere Nobelpreisträger Emil Fischer schon 1894 gewann: Er stellte fest, dass sich Zuckermoleküle als Körperbrennstoff und Enzyme als Verwertungshelfer verhalten müssen wie Schloss und Schlüssel, um eine chemische Wirkung aufeinander ausüben zu können. Uebertragen auf die computergestützte Wirkstoff-Forschung heisst das: Optimal kann die Entfaltung des gewünschten therapeutischen Effekts nur sein, wenn der Wirkstoff massgeschneidert an das Zielmolekül andockt. Dieser Vorgang kann durch den Computer ebenso errechnet werden wie akute Wirkungen und Nebenwirkungen von Signalträgern. Zentrale Aufgabe des Basler Nonprofit-Unternehmens ist aber nicht die konkrete Produkteentwicklung, sondern die Entwicklung und Verfeinerung von tierfreundlichen Konzepten und Software, die eine cumputergestützte Wirkstoff-Selektionierung erst möglich machen. Ueberflüssig freilich macht der Computer die teuren Tierversuche nicht, doch kann er neben der Anzahl auch die Versuche mit hoher Belastung drastisch reduzieren: Ungeeignete Substanzen, die schlecht an den Rezeptor binden, kann er frühzeitig erkennen und aus der Wirkungsprüfung ausscheiden. Als Referenz nennt Vedani das Beispiel einer Kooperation mit einem deutschen Pharma-Unternehmen: Von 1'100 Testsubstanzen, die zwischen 1986 und 1996 produziert wurden, gingen jährlich durchschnittlich sechs Wirkstoffe in den Tierversuch. Innerhalb eines Jahres aber untersuchte das Biografik-Labor am Computer 60 Substanzen, wovon drei als "sehr geeignet" erschienen und schliesslich eine einzige in den Tierversuch ging. Dieser Stoff, ein Alzheimer-Medikament, steht jetzt in der klinischen Prüfung. Allein mit diesem exemplarischen Auftrag retteten die Computer-Experimentatoren zwischen 500 und 1'000 Ratten das Leben. Vedani: "Daraus wird deutlich, dass die Verfahren zur Auswahl geeigneter Wirkstoffe entscheidend verbessert wurden." Der US-Pharmakonzern Monsanto verwendet seit Jahren Biografik-Software, die auch schon zu marktreifen Produkten geführt hat. Der Druck der Pharmaindustrie, immer schneller, immer billiger und immer optimaler wirksame Präparate auf den Markt zu bringen, ist stark: Zur Therapie gegen erhöhten Augendruck ("Grüner Star") ist beispielsweise ein Wirkstoff gefragt, der erstens die Blut-Hirn-Schranke als natürlichen Schutzwall gegen wasserlösliche Substanzen überwindet, gleichzeitig den krankhaften Innendruck nur gerade im Auge vermindert und schliesslich nach Absetzung möglichst rasch aus dem Körper ausgewaschen wird. Ein anderes Beispiel: Da eiweissartige Wirksubstanzen vom Magen gleich verdaut werden und somit nicht oral eingenommen werden können, müssen per Computer ähnliche, nicht eiweissartige Stoffe gebaut werden, die zwar die gleiche Wirkung haben, aber dem Verdauungsbedürfnis des Magens widerstehen. Der dazu nötige Rechen-Marathon ist enorm. "Eine typische Simulation erfordert bei 500 Millionen Operationen pro Sekunde eine Rechenzeit von zwei Wochen - rund um die Uhr", sagen die beiden Forscher. In andern Fällen, etwa im Rahmen eines gemeinsamen Projekts, werden ETH-Rechner am Abend via Internet gefüttert und am nächsten Morgen nach den Ergebnissen abgerufen. "Noch vor zehn Jahren wären solche Simulationen nicht möglich gewesen", sagt Angelo Vedani, einstiger Assistenzprofessor an der Universität von Kansas. Doch heute, wo die Silicon-Graphics-Maschinen des Biografik-Labors zehnmal schneller laufen als damals die schnellste ETH-Maschine, wird das virtuelle Experiment vollwertige und kostengünstigere Alternative zum Tierversuch. Fernziel ist - was heute erst in Ausnahmefällen gelingt - die Berechnung auch der langfristigen Giftigkeit am Computer. Gegen zwanzig Pharmaunternehmen - unter ihnen Hoechst, Bayer, Merck, Boehringer Ingelheim und Novartis - und über 50 Hochschulinstitute nutzen heute Konzepte und Software des Zwei-Mann-Betriebs. 1990 gegründet untersteht das Biografik-Labor seit Mitte dieses Jahres der gleichnamigen Stiftung und einem wissenschaftlicher Beirat. Die Jahreskosten von 300'000 Franken werden zur Hälfte durch Stiftung und Tierschutz-Organisationen getragen. Die andere Hälfte erwirtschaften die beiden Forscher durch kommerzielle Eigenleistungen. Vedani: "So sind wir gezwungen, fachlich an der Spitze mitzuhalten und unsere Methodik nach aussen zu vertreten." Reich werden sie mit ihrem edlen Job nicht: Sie arbeiten zum Lohn eines ETH-Oberassistenten. Wegbereiter einer ethisch sinnvollen Arbeit Sein Handwerk lernte Angelo Vedani in seiner postdoktoralen Ausbildung in Texas bei Professor Edgar Meyer, der schon in den sechziger Jahren mit Computergrafik am Schloss-Schlüssel-Prinzip arbeitete. Diese Begegnung war prägend für die berufliche Laufbahn des Sohns italienischer Einwanderer. Einer gesicherten Universitäts-Karriere in den USA zog Vedani die selbständige Forschertätigkeit im kleinen Team zum Lohn eines ETH-Oberassistenten vor. "Wir verstehen uns als Pioniere und Wegbereiter auf dem Gebiet der computergestützten Wirkstoff-Forschung", sagt der Wissenschafter. "Wenn man Arbeitskraft und Wissen einsetzen für etwas kann, das auch ökologisch und ethisch Sinn macht, dann ist das viel wertvoller als der blosse Einsatz für die Oekonomie." Der Art, wie er seine Arbeit organisiert, kann er drei entscheidende Vorteile abgewinnen: Zum einen ist sein Institut stark spezialisiert und effizient. Zweitens bietet es personelle Kontinuität. Drittens untersteht es weniger dem Zeit- und Marktdruck der rein kommerziellen Konkurrenz. "Im Gegensatz zur Konkurrenz brauchen wir keine Farbprospekte und müssen auch nichts beschönigen." Schliesslich kann der begeisterte Bergsteiger, der schon zwei Achttausender und etliche Siebentausender erklommen hat, in regelmässigen Abständen zu ausgedehnten Expeditionen in den Himalaya aufbrechen. Dort, in der Grenzzone über 7'700 Metern, reift im Vater zweier Buben, die ohne Fernsehen, aber mit Macintosh aufwachsen, auch das berufsethische Fundament. Nicht zufällig heisst die erste von ihm entworfenen Software "Yak": Das Wildrind aus den Bergen des Tibet schliesst Vedani am Schluss wissenschaftlicher Publikationen auch mal respektvoll in die Verdankung ein. * * * Computer-Kritik der Radikal-Gegner Wie die Experimente an Zellkulturen stossen auch die Computer-Modelle als Alternativen zum Tierversuch auf scharfe Kritik der radikalen Tiertestgegner um Christopher Anderegg. In ganzseitigen Anzeigen behauptet der "Verein zur Abschaffung der Tierversuche" (früher Civis Schweiz), Grund für den Rückgang der Tierversuche sei vor allem die Verlagerung ins Ausland. "Die Wissenschafter, die die Alternativmethoden erforschen, erachten Tierversuche als nützlich und notwendig - und wollen sie gar nicht abschaffen", heisst es in kürzlich publizierten Zeitungsanzeigen. Dadurch würden Tierversuche "weder vermindert noch ersetzt, sondern verewigt". "Mein Herz schlägt sehr für Tiere", sagt "Biografik"-Chef Angelo Vedani, der die Kampagne des fundamentalistischen Anti-Tierversuchs-Vereins als "schmerzlich" empfindet. Damit würden "alle Kräfte, die willens sind, zur Reduktion von Tierversuchen beizutragen, kaputt gemacht". Vedani schlägt dem Vereinsrepräsentanten Christopher Anderegg vor, sich kooperativ zu verhalten und "gewisse Thesen offen zu diskutieren". Vedani: "Wir müssen die Leute abholen. Darum arbeiten wir auch mit der Industrie zusammen." Ein sofortiges Totalverbot von Tierversuchen in der Schweiz würde zwar den Forschern einen "äusserst kreativen Schock" verpassen, brächte aber gar nichts, weil die Versuche dann tatsächlich in grosser Zahl ins Ausland verlagert würden, sagt der "Biografik"-Projektleiter. Zudem lasse Anderegg völlig ausser Acht, dass sich der Belastungsgrad der Tiere im Versuch laufend stark reduziere und die Anzahl Tierversuche pro Medikament "drastisch gesunken" sei. * * * Computer: Schnelligkeit als Chance 8. November 1997 |
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© by Peter Knechtli