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Foto Karl Schuler

Für die Ärmsten der Armen: Suppenküche in Sofias Zentrum


Kein Ausweg aus Bulgariens Schlamassel
in Sicht

Den Übergang zur Marktwirtschaft erlebt die Bevölkerung als eine Krise ohne Ende

VON KARL SCHULER*

Genau vor fünf Jahren erlebte Bulgarien den sozialen Tiefunkt, als mit der Hyperinflation die Versorgung zusammenbrach und ältere Menschen in ihren Wohnungen erfroren. Inzwischen hat sich die Lage stabilisert, doch erlebt die Mehrheit der Bevölkerung den Übergang zur Marktwirtschaft als endlose Krise. So ist die Lebenserwartung in den letzten zehn Jahren gesunken. Die Versorgungsprogramme des Roten Kreuzes mögen für viele die schlimmste Not etwas zu lindern. Die begonnene Gesundheitsreform ist ins Stocken gekommen.

Das gute Dutzend Wanderer, das an diesem Samstag Morgen von der bulgarischen Kleinstadt Kyustendil zu einer Expedition aufbricht, unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Touristengruppe. Die Männer, Frauen und Jugendlchen in soliden Bergschuhen sind jedoch mit grossen Paketen beladen. Sie gehören zur Freiwilligengruppe des lokalen Roten Kreuzes und steigen zu den zerklüfteten Weilern des Gebirges an der mazedonischen Grenze hoch, um völlig isoliert lebende Betagte mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Mit dabei ist auch ein Arzt, der sich um das gesundheitliche Wohl der alten Menschen kümmert. Insgesamt erhalten 250 meist alleinstehende ältere Bäuerinnen und Bauern eine monatliche Unterstützung und Betreuung. "Viele von ihnen sind Witwen und leben vor allem jetzt im Winter völlig abgeschieden in einfachsten Verhältnissen, besitzen im besten Fall eine Ziege", sagt ein Jugendlicher. "Wir versorgen sie mit Öl, Teigwaren,
Durchschnittlich jeder fünfte Bulgare im Erwerbsalter ist arbeitslos.“
Zucker und Fischkonserven. Aber wir gehen ihnen auch mit Arbeiten zur Hand wie beispielsweise Holzspalten und geben ihnen nicht zuletzt etwas menschliche Wärme ."

Solche Aktionen bilden im heutigen Bulgarien eine Art Überlebensgarantie für Menschen, die zwischen alle Netze fallen und mit der staatlichen Mindestrente von monatlich 50 Franken auskommen müssen. Aber eine Selbstverständigkeit sind die Freiwilligeneinsätze keineswegs. Denn durchschnittlich ist jeder fünfte Bulgare im Erwerbsalter arbeitslos, in gewissen Regionen beträgt dieser Anteil gar über die Hälfte. In einer von wirtschaftlichem Niedergang geprägten Gesellschaft muss jeder um sein eigenes Fortkommen kämpfen. Auch die Freiwilligen von Kyustendil sind mit persönlichen materiellen Sorgen belastet. Eine wichtige Rolle bei ihrem Engagement spielt Mihal Nikolov, der Leiter des lokalen Roten Kreuzes. Er bleibt ein Optimist und vermag seine Leute immer wieder zu begeistern. "Wir wollen dem Zerfall unserer Gemeinschaft nicht tatenlos zusehen und die alten Menschen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.", sagt der quirlige Fünfziger. Aber auch 400 benachteiligte Familien mit einem behinderten Kind und das Waisenhaus, in dem vor allem Roma-Kinder leben, erhalten Nahrungsmittel und materielle Unterstützung.

Die verlorene Idylle

Die im Südwesten gelegene Region Kyustendil mit ihren 200'000 Einwohnern galt bis zum Ende der kommunistischen Ära als Obstgarten des Landes. Die grossen Kooperativen versorgten Bulgarien mit Äpfeln und Kirschen und produzierten auch für den Export. Nach der Wende von 1989 brach die kollektivierte und stark industrialisierte Landwirtschaft gänzlich zusammen. Den privatisierten Betrieben fehlten die Mittel, um auf die Produktion auf kleineren Parzellen umzustellen. Die früheren Eigentümer, an die das Land zurückfiel, waren vielfach betagt und geschwächt. Und wenn Jüngere einen Betrieb übernahmen und gewillt waren, etwas aufzubauen, fehlte ihnen der Zugang zu erschwinglichen Krediten.
Im einstigen Garten Eden müssen heute Äpfel eingeführt werden.“
Heute müssen sogar in Kyustendil, dem einstigen Garten Eden, Äpfel aus Mazedonien und Griechenland eingeführt werden. Dieser wirtschaftliche Niedergang ist eine bittere Erfahrung für die Menschen hier.

Dem historischen Zentrum Kyustendils fehlt es trotz der überall vorhandenen Zeichen des Zerfalles nicht an einem gewissen Charme. Die ehemalige Moschee mit dem Minarett zeugt von der jahrhundertealten Besetzung des Landes durch die Türkei. Berühmt sind die heissen Mineralquellen, die mitten in der Stadt aus dem Boden sprudeln. Die ottomanischen Badehäuser sind jedoch brechen in sich zusammen, für die nötige bauliche Renovation fehlt das Geld. Damit verliert die Stadt ihre grösste touristische Attraktion. Die Idylle gehört endgültig der Vergangenheit an. Und da bildet Kyustendil im heutigen Bulgarien keine Ausnahme. Noch schlimmer steht es um die ehemaligen Zentren der Schwerindustrie wie beispielsweise Pernik, das an der Verbindungsstrasse zwischen Sofia nach Kyustendil liegt. Die stilllgelegten Anlagen und Gebäude rotten wie in einer Geisterstadt still vor sich hin.

Die Suppenküche in Sofias Zentrum

Gemüsesuppe, Fleischklösse und Kartoffeln: Das einfache Menu der öffentlichen Suppenküche des Roten Kreuzes an der belebten Vitosha Strasse im Zentrum von Sofia mundet. Jeden Tag treffen hier ab elf Uhr mittags 80 meist betagte Menschen oder deren Angehörige ein, um im mitgebrachten Gefäss aus Email oder Blech eine warme Mahlzeit abzuholen, die von fünf Köchinnen zubereitet wird. "Da wir nur über ein beschränktes Budget verfügen, ist die Anzahl der Mahlzeiten begrenzt. Nur die Bedürftigsten unter den Bedürftigen – mittellose und meist gesundheitlich angeschlagene Rentnerinnen und Rentner – haben ein Anrecht darauf. Allein in diesem Quartier könnten wir täglich 400 Mahlzeiten abgeben, wenn wir die Mittel dazu hätten", sagt Jordanka Stamova, die Verantwortliche des Rotkreuzkomitees der Haupstadt. Die Nahrungsmittel aus der Schweizer Aktion "2 x Weihnachten" sind also höchst willkommen. Das Rote Kreuz unterhält in den meisten Städten des Landes solche Suppenküchen. Sie vermögen teilweise die frühere staatliche Sozialhilfe zu ersetzen, die wegen Finanzknappheit fast völlig eingestellt wurde.

Obwohl dieser Mahlzeitendienst den älteren Menschen den Alltag erleichtert, ist er auch eine bittere Erfahrung. Eine hochbetagte, gepflegte Dame drückt dies gegenüber dem ausländischen Besucher so aus: "Wir sind Ihnen sehr dankbar für diese Unterstützung. Aber für unser Land ist es eine Schande, dass seine Rentner, die ein Leben lang arbeiteten, auf Almosen angewiesen sind." Sie war früher Verkäuferin und muss sich nun mit einer Monatspension von umgerechnet 120 Franken durchschlagen. Im Winter fressen allein die Heizkosten einen Drittel dieses Betrages auf. Hinzu kommen für die Herzkranke überlebenswichtige Medikamente, die im Gegensatz zu früher nicht mehr gratis abgegeben werden. Denn das einstige staatliche Gesundheitswesen ist im völligen Umbruch begriffen, und die Privatisierung der Gesundheitsvesorgung hat sich vorerst vor allem in einer teureren Versorgung für die benachteiligten Schichten ausgewirkt.

Gesundheitsreform mit ungewissem Ausgang

Die Lebenserwartung der Bulgarinnen und Bulgaren ist seit 1990 um zwei Jahre auf durchschnittlich 70 Jahre gesunken. Dies ist ein Spiegel des wirtschaftlichen Zerfalls und der dramatischen sozialen Krise. Bösartige Tumore und Herzgefäss- und Atemwegerkrankungen als Folge des Stresses, der fettreichen Ernährung und des hohen
Die Ausbreitung der Tuberkulose gehört zu den alamierendsten Zeichen.“
Tabakkonsums sowie die Ausbreitung typischer Armutskrankheiten wie Tuberkulose bilden die alarmierendsten Zeichen.

Das aufwändige Gesundheitssystem aus der kommunistischen Ära mit einer guten Spitalabdeckung konnte während der neunziger Jahre nicht mehr finanziert werden. Die als Folge der schweren Krise von 1997 gewählte liberale Regierung leitete die Privatisierung der 28 Regionalspitäler ein, viele Distriktspitäler wurden geschlossen und Pflegepersonal entlassen. Vor einigen Wochen musste die letztes Jahr gewählte Regierung die Privatisierung der Spitäler stoppen. Grund: Diese sind hochverschuldet und kämpfen gegen sämtliche Symptome der prekären Mangelwirtschaft. Die Ärztedichte mit einem ausgeprägten Spezialistentum ist allerdings auch heute noch höher als in der Schweiz.

Gynäkologin behandelt Bronchitis

Zur Verbesserung der gesundheitlichen Grundversorgung wurde letztes Jahr erstmalig ein breites Netz allgemeiner Familienärzte eingeführt. Während die Behandlung in den früheren staatlichen Polikliniken gratis war, stellen die privaten Ärzte nun Rechnung. Die neu eingeführte Gesundheitsversicherung, die aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen finanziert wird, deckt jedoch nicht alle medizinischen Leistungen. Viele beklagen sich darüber, dass sich die Leistung der Ärzte nach der Zahlkraft der Patienten richte. Daraus ergibt sich für die Mehrheit eine teurere Gesundheitsvesorgung. Dazu kommt, dass infolge des frühreren Ausbildungssystems die meisten Familienärzte eigentlich Spezialisten sind. "Wenn ich wegen einer Bronchitis die neue Arztpraxis in meinem Quartier aufsuche, so werde ich von einer Gynäkologin behandelt, was mein Vertrauen nicht gerade gefördert," kommentiert ein Bekannter. Erst kürzlich wurde an der Medizinischen Fakultät der Universität von Sofia ein Ausbildungsgang für Allgemeinärzte eingeführt.

Wichtig ist vor allem die Einführung einer spitalexternen Hauspflege, die in Bulgarien bis anhin praktisch unbekannt war. Das Schweizerische Rote Kreuz unterstützt in Sofia eine erste konkrete Initiative, die sich auf die Ausbildung von Krankenschwestern und Familienangehörigen der Pflegebedürftigen konzentriert.

Vom seltenen Optimimus

"Wenn du einen Optimisten findest, so lass ihn nicht mehr los." Dieser in Kyustendil gehörte Ausspruch drückt die allgemeine Stimmungslage treffend aus. Zwar wünscht sich kaum jemand den früheren Staatssozialismus zurück, aber die Enttäuschung über den wirtschaftlichen Niedergang und die schamlose Korruption einer neureichen Schicht ist verständlicherweise stark verbreitet. Eine gewisse Apathie und Resignation hat sich breit gemacht. Vor allem die jüngere Generation sieht den einzigen Ausweg in der Emigration. Wohin die viel beschworene Übergangsperiode vom Kommunismus zur Marktwirtschaft letztlich führt, ist unklar. In ihrer grossen Verunsicherung klammern sich die Menschen an jeden Strohhalm. Die Wahl des aus dem Ausland geholten Königs Simeon zum Regierungschef im letzten Sommer war nicht zuletzt auch ein Ausdruck davon. Die neue Regierung wirkt bis heute orientierungslos und sprunghaft in ihren Entscheidungen, eine Wende zum Besseren zeichnet sich nicht ab.

Insofern ist es erstaunlich und ermutigend, dass trotz aller Widerwärtigkeiten und harten Entbehrungen die Optimisten nich ganz ausgestorben sind – wie beispielsweise die Freiwilligen von Kyustendil.

* Der Autor ist Informationsverantwortlicher beim Schweizerischen Roten Kreuz und besuchte kürzlich Bulgarien.


Echo
"Die Alten gehen als betrogene Generation in die Geschichte ein"

Ich bin am Freitag von einem 7-tägigen Bulgarienbesuch zurückgekehrt und kann die Beobachtungen von Herrn Schuler nur bestätigen. Schon zu kommunistischen Zeiten war Bulgarien innerhalb des Comecon eher unterprivilegiert. Dies war aber weniger offensichtlich, da das Gefälle zwischen arm und reich weniger gross war und die privilegierten Parteigänger ihren "Reichtum" besser verstecken konnten. Leider wird die Übergangsperiode zum marktwirtschaftlichen System für Bulgarien sehr schmerzvoll. Besonders die Senioren trifft es sehr hart: Zuerst Krieg, dann Sozialismus und nun Kapitalismus ohne die in der westlichen Welt vorhandenen Grundlagen wie angespartes Rentenkapital und etablierte soziale Einrichtungen. Der von Herrn Schuler beschriebene Optimismus ist eigentlich nur bei den unter 40-Jährigen anzutreffen. Diese Generation hat meines Erachtens auch eine echte Chance, trotz Korruption sozialem Gefälle das Leben noch besser zu gestalten. Die Alten werden jedoch, leider, als verlorene oder auch betrogene Generation in die Geschichte eingehen.

Peter Feiner
Basel

18. April 2002

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