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Foto Elsbeth Tobler

"Jeder noch so kleine Fehler kann tödlich enden": Nato-Aufklärungspilot Kay Marquardt


"Wir sind keine waffenverrückten Rambos, die es in den Krieg zieht"

Im italienischen Piacenza unterwegs mit dem deutschen Nato-Aufklärungspiloten Major Kay Marquardt

VON ELSBETH TOBLER

Nach dem Kosovo-Krieg vor zwei Jahren und der Verhaftung des früheren jugoslawischen Diktators Slobodan Milosevic droht auf dem Balkan ein neuer militärischer Konflikt - zwischen Albanern und Mazedoniern. Noch immer sind die Nato-Piloten im Wartesaal der Gefahr, wenn sie zu Aufklärungsflügen über dem Kosovo starten. Einer unter ihnen ist der deutsche Major Kay Marquardt. OnlineReports traf ihn auf seiner Basis im italienischen San Damiano, wo er den Kriegseinsatz und die Zeit danach reflektierte.

Es ist eine rasante Fahrt mit dem Militär-VW durch idyllische italienische Dörfer, bevor wir den Militärflugplatz von San Damiano bei Piacenza erreichen. Am Lenkrad sitzt Major Kay Marquardt. Er ist Bundeswehrpilot und fliegt einen der sechs Aufklärungs-Tornados "Recce" (Reconnaissance) im 160 Mann starken Einsatzgeschwader 1 der deutschen Luftwaffe, das zum Aufklärungsgeschwader 51 "Immelmann" gehört. Vier der verbleibenden Jets ruhen nun unter dem Zelt. Zwei Maschinen sind von ihren Besatzungen nach Deutschland zurück geflogen worden. Ebenso die acht ECR-Tornados des Jagdbombergeschwaders 32. Jetzt stehen sie in Lechfeld im 96-Stunden-Bereitschaftsdienst.

Schokolade und Müsli statt Morgen-Kaffee

Blassgrüne Zelte, Hangars neben Containern. Die Betonrollbahnen glänzen im Nass des Regens. Am Rande der Felder leuchtet der Löwenzahn. Fast surreal erscheint die Welt hinter dem Stacheldrahtzaun. Auf dem Flugplatz herrscht noch die Stille des Morgens. Major Marquardt nippt an einer Schokolade und mixt sich ein Müsli. Kaffee gibts keinen. Denn Kaffee macht nervös. Und das dürfen Piloten bekanntlich nicht sein. Sie bereiten sich beim Frühstück mental auf ihren Flugtag vor. Später sitzen wir im neonerleuchteten unterirdischen Briefingraum im Operationsgebäude – Piloten und Waffensystemoffiziere, Einsatzleiter, die Nachrichten- und Heeresverbindungsoffiziere, ein Fliegerarzt und der deutsche Meteorologe. Die Tageseinsätze werden besprochen. Was bewegt die Piloten in diesem Moment? Woran denken sie? Wie würden sie handeln, wenn ihre Aufgabe darin bestünde, töten zu müssen? Davon ist nicht die Rede. Stattdessen wimmelt es nur so von "Flieger-Codes". Der deutsche Wettermann prophezeit gutes Wetter.

Ein Start scheint durchaus möglich. Doch dann werden die geplanten Flüge von der italienischen Einsatzleitung wegen "instabiler Witterung" annulliert. Für Marquardt eigentlich nichts Aussergewöhnliches. Der 36jährige Flensburger Pilot ist es gewohnt, dass sich alles blitzschnell ändern kann. Seit bald 17 Jahren gehört er zu den - wie die Italiener hier sagen - "top gun tedeschi", jenen Jungs, denen man attestiert, dass sie physisch und psychisch extrem belastbar sind. An das Klischee vom stahlharten Jet-Piloten allerdings erinnert der Major in Fliegerkombi kaum. Auffällig sind eher seine Ruhe, seine Besonnenheit und sein Humor: "Harte Schale, weicher Kern", kommentiert er diesbezügliche Fragen.

Marquardts Laufbahn begann wie die vieler Piloten. Schon als Kind träumte er davon, die Erde einmal von oben zu betrachten. "Das Fliegen und die Flugtechnik faszinierten mich schon immer." Beides wurde zur Leidenschaft. Also bewarb er sich gleich nach dem Abitur für die Militärpilotenlaufbahn bei der Bundeswehr. Der Weg ins Cockpit eines Jets erwies sich jedoch als steinig. Er führte über ein hartes Auswahlverfahren, die Offiziersschule sowie eine mehrjährige fliegerische Ausbildung. Dann Jet-Training in Texas und in England auf der T-37, T-38 und der Phantom. 1991 schulte Marquardt auf den Tornado um. Mit bald 3'000 Flugstunden zählt er mittlerweile zu den erfahrensten Jet-Piloten und Fluglehrern seines Geschwaders.

In Bereitschaft: Hoffen, dass der Ernstfall ausbleibt

Kay Marquardt ist rund 120 Tage jährlich auf der italienischen Airbase in der Po-Ebene stationiert. Er flog auch ganz vorne im NATO-Package mit, als 1999 das Ultimatum von Rambouillet auslief und die Kampfeinsätze über Jugoslawien begannen. "Auch wenn die Piloten für den Ernstfall ausgebildet werden", meint Oberstleutnant Christoph Pliet, derzeit Kommodore des EG 1 und Chef der Immelmänner, "hatten die meisten auf dem Höhepunkt der Kosovo-Krise gehofft, dass es nicht dazu kommen würde. "Doch wir hatten einen politischen und humanitären Auftrag: Die Kosovaren sollten unbehelligt von serbischen Aggressionen leben können." Heute möchte man sagen: ein frommer Wunsch. Denn die Forderung der UN-Resolution 1244, aus dem verwüsteten Kosovo ein multi-ethnisches Musterland zu machen, ist Papier geblieben. Trotz Anwesenheit von 50'000 Kfor-Soldaten und der Einsetzung einer UNO-Verwaltung sind Chaos und Gewalt vor Ort bis heute an der Tagesordnung. So werden die NATO-Angriffe und die damalige Informationspolitik in der Öffentlichkeit immer noch heftig kritisiert. Und auch unter den Piloten.

Marquardt betont indes, wie wichtig ihnen seinerzeit der politische und gesellschaftliche Konsens hinter dem Auftrag war. "Zudem - die Bilder von Massengräbern, das Flüchtlingselend, die Vergewaltigungslager im Kosovo lassen sich nicht wegdiskutieren".

Eine friedliche Gegend war das Land zwischen Save, Drau, Donau, Adria und Schwarzem Meer nie. Umkämpftes römisches Territorium. Aufmarschgebiet der Goten, byzantinische Provinz, von den Osmanen erobert, von Habsburg annektiert. 2'000 Jahre lang immer wieder Krieg und Verderben. "Auch heute sind die Aufklärungsflüge über Bosnien und dem Kosovo gefährlich", analysiert Marquardt. Was ihnen Sicherheit geben soll, ist die Mindestflughöhe von 3'000 Metern (10'000 Fuss). Die Filme, die sie von diesen Flügen mitbringen, geben Aufschluss über gegnerische Stellungen, Truppenentflechtungen und Grenzübertritte. Sie zeigen Strassensperren sowie den Wiederaufbau der Infrastruktur.

Noch immer sieht es nicht aus, dass die Soldaten nach Hause gehen können. Die Sorge bleibt, dass die angespannte Lage auf dem Balkan wieder in Krieg umschlagen könnte.

Der Faktor Mensch im Krieg

Ein Soldat wie auch sein Vorgesetzter müssen antizipieren können, was mit dem Gewissen zu vereinbaren ist. Je höher plaziert in der Hierarchie, desto grösser sind die Ansprüche und die moralisch-ethische Verantwortung. Schon beim Antritt des Jobs müssen sie sich über die Dialektik von Schuld und Unschuld im Klaren sein. Feuern und vergessen, das geht nicht. "Wir sind keine waffenverrückten Rambos, die es in den Krieg zieht", sagt Marquardt, auch wenn die Hightech-Kriegsführung in letzter Konsequenz das Töten des Gegners anonym mache. "Das Bewusstsein für die menschliche Dimension des Kampfeinsatzes geht dabei nicht verloren", versichert er. Der Druck auf den Auslöseknopf für die Anti-Radar-Raketen im ECR oder auf den Kameraknopf im Recce, so der Major, koste stets grosse Überwindung. Denn damit ebnen die Tornado-Piloten den folgenden Angriffsverbänden den Weg. Und dass dadurch mit grosser Wahrscheinlichkeit Menschen - zumindest indirekt - getötet werden, gehe ihnen sehr nahe.

Seit Jahrzehnten versucht man die Faszination zu ergründen, die der Krieg auf den Menschen ausübt. Die renommierte italienische Autorin Oriana Fallaci war 1967 und 1968 als Reporterin in Vietnam. Fallaci beschreibt in ihren Werken, wie der Krieg Menschen physisch oder psychisch vernichtet. Die Existenz von Kriegen und Gewalt in der Zivilisation enthüllt letztlich auch die Widersprüchlichkeit unserer Welt: Da sind einerseits ungeheure technische und medizinische Fortschritte, die die Lebensqualität verbessern und Menschenleben verlängern sollen. Auf der anderen Seite finden wir die "Bestie" Mensch, die - oft auch nur still und heimlich - im Namen von vermeintlichen Werten zerstört.

Ein Testament ist hinterlegt

All diese Tatsachen lassen sich ebenso wenig verdrängen wie das Bewusstsein der eigenen Risiken. "Unser Job ist eine permanente Herausforderung", meint der Major. Wie alle anderen hat er vorgesorgt und ein Testament hinterlegt. Vor ihrem Einsatz setzten sich die Jet-Piloten in einem Seminar mit Kriegsgefangenschaft, Verletzung und Tod auseinander. Dabei wurden sie auf kritische Momente vorbereitet, etwa wenn nur noch das rettende Rauskatapultieren mit dem Schleudersitz bleibt und dann das Warten auf Hilfe. Dass jede Nacht die letzte sein könnte, versuchen sie wegzustecken. "Ich bin ein optimistischer Mensch und hoffe, dass mir nichts passieren wird", erklärt Marquardt. Es habe aber auch Momente gegeben, da wäre er lieber zu Hause gewesen. Nicht, dass er kneifen wollte. "Aber die Belastung für meine Frau und meine Familienangehörigen war enorm." Angst? "Spätestens wenn man in der Kanzel sitzt, bleibt dazu keine Zeit mehr. Man ist zu beschäftigt, zu konzentriert", sagt Marquardt. Zudem vertraut er auf seine Fähigkeiten. Doch manchmal kommt Marquardt auch ins Grübeln. "Was wäre gewesen, wenn...", reflektiert er.

484mal waren die ECR-Bomber sowie die Aufklärungs-Tornados 1999 zu Einsätzen über dem Kosovo und Belgrad aufgestiegen. Sieben Stunden dauerte ein Flug. Auch Kay Marquardt ist zu Aufklärungsflügen über dem Kriegsgebiet gestartet. Mit ihm der Waffensystemoffizier (WSO), der die Bilder für die Vorbereitung auf spätere Luftangriffe schiesst. Marquardt lassen diese Flüge nicht los. "Jeder noch so kleine Fehler kann tödlich enden. Jeder Handgriff, jeder Einsatz wurde deshalb intensiv geübt.". Aufstieg, Abdrehen, Einflug in einen Luftkorridor. Dann der Einflug ins unmittelbare Kriegsgebiet in Serbien oder im Kosovo, Ansteuern des Aufklärungsobjekts. "Im Falle eines Angriffs wären mir nur ein paar Sekunden geblieben, um zur Selbstverteidigung die Sidewinder-Rakete am Rumpf meiner Maschine zu zünden." Aber Marquardt musste – er ist sichtlich erleichtert – nie den Knopf drücken. Die Anspannung habe sich immer erst gelöst, wenn er das feindliche Territorium wieder verlassen habe und den Stress mit dem WSO per Funk teilen konnte.

Brennende Dörfer und Rauchsäulen

Was die Soldaten damals und heute bewegt, kommt während des Debriefings nach jedem Einsatz und abends am Bartresen des Hotels "Roma", wo die Besatzungen aus Sicherheitsgründen untergebracht sind, zur Sprache. Dann reden sie über ihre Erlebnisse der letzten Jahre - über die brennenden Dörfer, die aufsteigenden Rauchsäulen, die sie während der Nachtflüge beobachtet hatten. Zum Arzt hat es keinen gezogen. "Als Erstes streichelten die Soldaten die Katze, die dort herumstreunte", erzählt Fliegerarzt Dr. Jansen. "Zu posttraumatischen Belastungssyndromen ist es nach den Kriegseinsätzen nicht gekommen." Besonders der Austausch zwischen Pilot und Waffensystemoffizier sei die beste psychologische Unterstützung gewesen. Natürlich gibt es in Piacenza auch eine psychologische Betreuung für die Piloten sowie ein Sport- und Kulturprogramm. Marquardt zieht sich jedoch gerne zurück. Er ist in Piacenza ein vertrauter Anblick geworden, wenn er mit seinem Walkman joggend durch die engen Gassen oder den Stadtpark trabt. Belastend kann die Situation für die Soldaten allerdings sein, wenn sie ins so genannte normale Leben eintauchen.

"Combat stress reaction" nennen die Mediziner psychosomatische Störungen wie Albträume, Essstörungen und Schlaflosigkeit. Oft verschieben sich auch die Wertmassstäbe. Was im Einsatz als Schutzfunktion diente, die Konzentration und die extreme Zeitorientierung, kann im Alltag zum Problem werden. Das Interesse an alltäglichen kleinen Dingen geht verloren. "Man kann einfach nicht nachvollziehen, dass jemand sich über Unkraut im Garten aufregt", erklärt Marquardt. Während fast eines Drittels des Jahres lebt Kay Marquardt zudem von seiner Frau getrennt: "Wenn ich nach Hause komme, steht für mich die Familie im Vordergrund." Er ist vor zehn Monaten Vater von Zwillingen geworden.

Frühpensionierung mit 41 Jahren

Auch wenn keiner laut übers Aufhören spricht, Gedanken an die Zukunft bedrängen Marquardt wie all die anderen auch. "In Frühpension gehen die Jet-Piloten mit 41 Jahren, wenn sie mindestens 20 Dienstjahre als 'Berufsoffiziere mit verwendungsbezogener Altersgrenze' absolviert haben", erklärt Personalstabsoffizier Major Peter Wittmer. Erleichtert werde den Piloten dieser Schritt, weil sie als Rente 55 Prozent ihres letzten Gehaltes erhielten. Marquardt hat noch keine Entscheidung getroffen. "Vielleicht werde ich ziviler Fluglehrer, für kleinere Lizenzen." Er könnte sich – da sprachbegabt – auch eine Karriere im PR-, Medien- oder Öffentlichkeitsbereich vorstellen.

Doch vorerst geht der Einsatz weiter. Kaum zwängen sich die Piloten in ihre engen Druckanzüge und klettern in die Kanzel, steigt der Puls. Beim Start bis 170. Die Jets donnern weg von der Erde. Und wieder warten alle darauf, dass die Kameraden nach der Aufklärungsarbeit unversehrt zurückkehren. Seit Jahresbeginn war Major Kay Marquardt krank. Er flog am 4. April zum ersten Mal wieder.



Stichwort "Einsatzgeschwader 1"

Rund 160 Soldaten bilden das Einsatzgeschwader 1 der Bundesluftwaffe im italienischen Piacenza, dem u.a. Luftwaffenangehörige des Aufklärungsgeschwaders 51 "Immelmann" aus Jagel (Schleswig-Holstein) und des Jagdbombergeschwaders 32 aus Lechfeld angehören. Seit 1995 sind die Soldaten auf dem italienischen Stützpunkt San Damiano bei Piacenza stationiert, zu Gast bei der italienischen Luftwaffe. Die Mitgliedstaaten der NATO-Allianz haben sich zusammengefunden, um einen Beitrag zur Wiederherstellung und Stabilisierung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien zu leisten.


12. April 2001

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