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Foto zvg

Er kennt seinen Vater nicht, denn er ist vor der Geburt gestorben: Der kleine Angelo


Ein Horror-Unfall, eine kurze Liebe und der kleine Angelo

Eine Geschichte, die das Leben schrieb: Wie eine junge Frau von einem Behinderten schwanger wird und der Vater stirbt, bevor das Kinder geboren ist

VON PETER KNECHTLI

Ein Horror-Autounfall in Italien, ein Liebesverhältnis zu einem behinderten Unfallopfer und verschwundene Blutproben im Kantonsspital Aarau. Von all dem weiss der kleine Angelo nichts. Aber seine Mutter, eine junge Frau aus dem Kanton Aargau, kämpft verzweifelt für seine Zukunft.

Wir fahren von Aarau mit der Bahn ins Suhrental, steigen an einer Haltestelle, wo weiland ein Dorf-Kino stand, aus, und suchen den Weg zum nahen Wohnblock.

Oben im vierten Stockwerk, in der bescheiden eingerichteten 4,5-Zimmer-Wohnung, wohnt Sereina Hunziker*, heute 28jährig. Unter zahllosen Bilderrähmchen die fotografischen Insignien eines vergangenen Glücks: Sereina Hunziker mit ihrem damaligen Verlobten Vincenzo Forente*, bevor er im Alter von 21 Jahren starb. Am Boden krabbelt artig, mit Spielzeugen beschäftigt, der kleine Angelo. Von der unglaublichen Vorgeschichte weiss der dreijährige Junge noch nichts.

Fürchterlicher Unfall

Es geschah am 7. Juli 1994. Mit seinen Eltern fährt Vincenzo Forente südwärts in die Heimat. Am Steuer des Opel Vectra sitzt sein Vater, Bauarbeiter und Nachbar von Sereina Hunziker. Irgendwo auf der Autobahn bei Modena kommt es zum fürchterlichen Unfall: Mit einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern fährt der Personenwagen der Familie Forente ungebremst in einen stehenden Lastwagen. Vater und Mutter sind sofort tot. Der 18jährige Automechaniker-Lehrling Vincenzo überlebt mit schwersten Verletzungen, darunter ein Hirntrauma.

Sereina Hunziker kannte den schwerverletzen jungen Mann, der nach einer ersten medizinischen Betreuung in Italien ins Kantonsspital Aarau überführt wurde, bisher "so vom Hoi und Tschüss". Während mehreren Wochen lag er im Koma. Später kam er in die Rehabilitationsklinik von Bellikon, wo ihn Sereina und ihre Mutter zum ersten Mal besuchten.

"Man spürte, dass er Liebe brauchte"

"Er war im Rollstuhl und total entstellt, hatte eine heisere Stimme, ich konnte ihn fast nicht verstehen - aber er erkannte uns sofort", erinnert sich Sereina Hunziker an die Besuche mit ihrer Mutter. Schon bei der ersten Begegnung war Sereina war für Vincenzo etwas Spezielles: "Er nahm mich an der Hand und liess mich nicht mehr los. Man spürte, dass er nach dem Verlust seiner Eltern Liebe brauchte."

Was "wie eine Beziehung zwischen Bruder und Schwester" bekann, entwickelte sich allmählich zu einer emotinalen Bindung. "Ich durfte mich zu ihm auf's Bett setzen. Vier Monate nach dem ersten Besuch war ich verliebt."

Vor den Sommerferien konnte Vincenzo übers Wochenende nach Hause zu seinen Grosseltern. Gelegentlich besorgte auch Sereina den Transport. Auch wenn in seinem Hals noch immer eine Kanüle steckte, mit der wegen chronischer Lungenentzündung Schleim aus der Luftröhre abgesaugt werden musste, besserte sich Vincenzos Zustand allmählich. Lebensfreude und auch eine gewisse körperliche Erholung kehrten in sein Leben zurück. Sereina: "Ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelacht wie mit Vincenzo." Im Dezember 1995 war Verlobung. Im folgenden Sommer kam es zum ersten sexuellen Kontakt.

Nach dem Film-Abend der Tod

Doch die Liebesbeziehung nahm ein plötzliches Ende. Am Abend des 29. September 1996 schauten die beiden am Fernsehen den dramatischen Liebesfilm "Masquerade" an. "Danach gingen wir hoch in mein Zimmer", erinnert sich Sereina. "Vincenzo sagte, es sei ihm nicht gut, nachdem er schon nachmittags umgefallen war. Er zitterte. Kurz darauf fiel er bewusstlos nach hinten aufs Bett." Der herbeigerufene Arzt konnte trotz intensiver Herzmassage und Beatmung nichts mehr retten: Vincenzo war tot.

Ein Test nur einen Tag nach Vincenzos Tod ergab, dass Sereina von ihm schwanger war. Sieben Monate später, am 23. April 1997, brachte sie einen gesunden Buben zur Welt: Angelo, 1'840 Gramm, 45,5 Zentimeter. Doch in die Geburtsfreude mischten sich bald beengende Gefühle. Denn Verwandte des Verstorbenen schienen zu zweifeln, dass Vincenzo der Vater war. Dies zu bezeugen wäre mit einer DNA-Blutanalyse einfach gewesen. Nur: Vincenzos Blutproben im Kantonsspital Aarau waren verschwunden.

Mögliches Motiv: Wenn Vincenzo Forente nicht als Vater nachgewiesen werden konnte, hätten dessen Angehörige statt der kleine Angelo sein Erbe antreten können: Es handelt sich dabei um je eine mittlere Eigentumswohnung in seiner Aargauer Wohngemeinde und in Italien sowie um Bargeld in Höhe von 50'000 Franken.

Eingeschüchterter Oberarzt vernichtete Blutproben

Der Dorfarzt spricht von einem "mysteriösen Fall", der sich am Pathologischen Institut des Aarauer Spitals ereignet habe. Selbst Institutsleiter Professor Bernhard Stamm bestätigte dem "Beobachter", dass es sich dabei um einen "unrühmlichen Einzelfall" gehandelt habe.

Laut Stamm hatte der mit der Leichenöffnung beauftragte Oberarzt Blut- und Gewebeproben entnommen und tiefgekühlt. Kurz darauf erhielt er vom Anwalt von Vincenzos Anhörigen einen "bedrohlichen Brief" (Stamm), der die "sofortige Vernichtung" der Proben forderte. Grund: Die Gewebe-Entnahme sei ohne Einwilligung der gesetzlichen Personen erfolgt und somit widerrechtlich.

Dem Oberarzt sei darauf "das Herz in die Hosen gefallen", weshalb er die Proben umgehend "entsorgt" habe. Juristische oder disziplinarische Konsequenzen hatte die übergebührliche Beflissenheit des Oberarztes nicht (Stamm: "Ich schimpfte mit ihm"), weil der Brief nach Meinung des Rechtsdienstes des Aargauer Gesundheitsdepartementes "für einen juristischen Laien tatsächlich bedrohlich" wirkte.

Dennoch liess sich die Vaterschaft abklären, denn von mikroskopischen Untersuchungen her waren noch Gewebeproben vorhanden, die für den Nachweis herangezogen werden konnten. Der Befund des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich ist ohne Zweifel: Mit 99,9188prozentiger Wahrscheinlichkeit ist Vincenzo Forente der Vater von Angelo.

Die Mutter begann zu kämpfen

Für Sereina Hunziker begann damit erst das Gerangel um ihr Recht. Denn auf das Erbe von Sohn Angelo hat sie keinen Zugriff. Vielmehr lebt die allein erziehende Mutter unter dem Existenzminimum. Als teilzeitbeschäftigte Uhrenverkäuferin verdient sie samt Suva- und IV-Beiträgen monatlich 2'700 Franken brutto, die Gemeinde hat im Juni die Fürsorgebeiträge von 1'280 Franken gestrichen. "Weil es mit dem Kleinen einfach nicht mehr geht", will Sereina ab Frühling ihre Teilzeitstelle aufgeben. Weil damit nochmals Einkommen wegfällt, sollen jetzt Zinserträge aus Angelos Barvermögen einen Ausweg aus dem finanziellen Engpass bringen.

Stille herrschte dagegen während eines ganzen Jahres im Hause "La Suisse", wo Sereina wegen Vincenzos Tod als Spätfolge eines Autounfalls die Ausrichtung einer monatlichen Halbwaisen-Rente bis zum Ende von Angelos Ausbildung geltend macht. Laut ihrem Anwalt müsse "der Bub gleich gestellt werden, wie wenn der Vater noch leben würde".

Versicherung: Fall mit "speziellem Charakter"

ONLINE REPORTS wollte den neusten Stand der Motorfahrzeug-Haftpflicht-Sache von Jean-Michel Duc, dem Chef des "La-Suisse"-Rechtsdienstes, direkt wissen. Vincenzo Forente, so sagte er, sei eine Summe von 450 Millionen Lire (rund 370'000 Franken) ausbezahlt worden, weitere Forderungen seien verjährt. Mehr könne er aber ohne ausdrückliche Vollmacht der Betroffenen nicht sagen. Als die velangte Ermächtigung vorlegt wurde, wollte "La Suisse" plötzlich keine weiteren Auskünfte mehr geben ("juristisch längst erledigt").

Mit Rücksichtnahme auf den "speziellen Charakter dieses Falles", so jedoch die neuste Kunde aus Lausanne, sei "La Suisse" jetzt mit Sereina Hunzikers Anwalt in "regem Kontakt". Zwei Fragen sind ungeklärt: Die Forderung nach einer Halbwaisen-Rente und die Frage nach dem Verbleib der 370'000 Franken. Der Anwalt: "Sie sind nicht bei Angelo und nicht beim verstorbenen Vater gelandet, sondern in unklaren Kanälen."

Sereina Hunziker hat den Glauben nicht aufgegeben: "Ich muss jetzt unten durch. Aber ich hoffe, dass alles seine Gerechtigkeit haben wird."


* Namen geändert

4. Mai 2000

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(c) by Peter Knechtli