Weltpolizist USA tritt daheim die Menschenrechte mit Stiefeln

Amnesty International lanciert Kampagne für die Rechte aller Menschen in den USA

Von Ruedi Suter

In den USA fallen Tag für Tag Tausende von Menschen schweren Menschenrechtsverletzungen zum Opfer. Angesichts gravierender Missstände wie Folter, Polizeiterror, physische oder psychische Gewalt gegen Gefangene und die willkürliche und rassistische Anwendung der Todesstrafe lanciert Amnesty International (AI) ihre erste weltweite Kampagne für die Rechte aller in den USA lebenden Menschen.

Ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika, die anderen Ländern in Sachen Menschenrechte mit Druck und Drohungen auf die Sprünge helfen wollen, werden nun selbst zur Zielscheibe von Menschenrechtlern. Für diese allerdings nicht ganz überraschend, haben doch die USA mit der gnadenlosen Verfolgung der indianischen Ureinwohner einen der grössten Völkermorde auf dem Gewissen, dessen Nachwehen heute noch in der vielfältigen Diskriminierung und Verfolgung der letzten Indianer zu beobachten sind.

Sinnigerweise heisst auch das Motto der Kampagne von Amnesty International "Gleiche Rechte für alle!". Die Vorwürfe sind massiv. Laut AI werden Häftlinge mit High-Tech Repressionsinstrumenten wie Elektroschock-Geräten und chemischen Sprays misshandelt; werden Angehörige ethnischer Minderheiten oder jugendliche oder geistig behinderte Straffällige nach unfairen Verfahren zum Tode verurteilt und werden Asylsuchende willkürlich verhaftet. Amnesty International konstatiert "eine gefährliche Erosion grundlegender Menschenrechte in den Vereinigten Staaten".

Gefängnisse als Todesfallen

Die Uebergriffe durch Polizeibeamte seien derart weitverbreitet, dass jedes Jahr Millionen von Dollars an mutmassliche Opfer bezahlt werden müssten. Alltäglich seien aber auch Berichte über die diskriminierende Behandlung von ethnischen Minderheiten. AI: "Junge Afro-Amerikaner, die wegen kleinerer Delikte verhaftet werden, sind besonders häufig Zielscheibe polizeilicher Uebergriffe." Der steigenden Kriminalität würden die USA mit schärferen Strafen und dem Füllen ihrer Gefängnisse begegnen. Dies ende oft tödlich, da in Polizeihaft auch viele Verdächtige ihr Leben verlören. Zum Beispiel weil sie mit dem Gesicht nach unten in Gewahrsam blieben - oft in einer schmerzhaften Position, die Hand- und Fussgelenke aneinandergefesselt.

In den Haftanstalten registriert Amnesty ausserdem eine hohe Gewaltbereitschaft. Aufseher würden Gefangene zu Gewaltakten aufstacheln oder nichts für deren Verhinderung tun. Gefängnisbeamte prügelten grundlos Häftlinge oder vergewaltigten weibliche Insassen. Die Isolationshaft werde zunehmend in Hochsicherheits-Gefängnissen angewendet. Wie zu den Sklavenzeiten müssten Gefangene teils tagelang die durch internationales Recht geächteten mechanische Fesseln tragen. Davon blieben selbst schwangere Frauen nicht verschont.

Asylbewerber als Kriminelle behandelt

60 Prozent aller Gefangenen sind Angehörige ethnischer Minderheiten. Rund ein Drittel aller jungen schwarzen Amerikaner seien in Haft, im Gefängnis oder bedingt in Freiheit. Hinter Gittern landet nach den Erkenntnissen von Amnesty zudem eine wachsende Anzahl von Flüchtlingen. Diese würden oft zu Kriminellen gesteckt und verbal wie physisch missbraucht, vegetierten unter unmenschlichen Bedingungen in Ketten und Handschellen, ohne Kontaktmöglichkeiten zu Anwälten, Asyl-Organisationen und Uebersetzern.

Die Horrorliste an US-amerikanischen Menschenrechtsverletzungen beinhaltet auch das besser bekannte Thema Todesstrafe. Deren willkürliche wie rassistische Anwendung werde kaum hinterfragt, ja von Politikern gar als Wahlinstrument eingesetzt. Amnesty klagt an: "Obwohl schwarze und weisse Menschen zu etwa gleichen Teilen Opfer von Gewaltverbrechen werden, wurden vier Fünftel aller Hinrichtungen seit 1977 wegen Mordes an weissen Opfern vollzogen. In Verletzung internationaler Standards werden in den USA auch jugendliche und geistig kranke Straftäter hingerichtet."

Wo ist die Vene für die Giftspritze?

Und während die Zahl der Hinrichtungen zunimmt, erhielten viele wegen Mordes angeklagte Menschen keine richtige Verteidigung. Auch kritisiert die Organisation die "humanere" Hinrichtungsart mit der Giftspritze. Grund: In vielen Fällen mussten Verurteilte einen verlängerten Todeskampf durchmachen, weil das medizinische Personal kaum die Vene fand, um das tödliche Gift zu injizieren - oder weil die Opfer mit einer Nadel im Arm das Ergebnis eines letzten Gnadenappells abwarten mussten.

Schliesslich spannt AI in ihrer Anklageschrift den Bogen zur US-amerikanischen Weltpolitik. Feindlich gesinnten Ländern würden die USA zur Einhaltung der Menschenrechte auffordern, derweil wirtschaftlich und geostrategisch interessante Verbündete ungestraft die Menschenrechte mit den Füssen treten dürften. Als der Welt grösste Waffenproduzentin beliefere und trainiere die USA Regierungen und Oppositionsgruppen, die keine Scheu vor Folterungen, politischen Morden und anderen Scheusslichkeiten hätten. Die Elektroschock-Waffen "Made in USA" würden auf der ganzen Welt verwendet, Menschen zu foltern. Zudem könnten USA-hergestellte Ausrüstungsgegenstände wie eiserne Fuss-Fesseln, Daumen-Manchetten, Pfeffer-Sprays und Elektro-Waffen "ohne weiteres" für Folter und Misshandlungen verwendet werden.

AI-Appell an die US-Behörden

Ihre globale Kampagne verbindet Amnesty mit einem Appell an die US-Behörden, "ihrer selektiven Anwendung des internationalen Rechts zuhause und im Ausland ein Ende zu setzen und alle Menschenrechtspakete ohne Einschränkung zu ratifizieren". Hierzu gehören so grundlegende Abkommen wie das Uebereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die UNO-Kinderrechtskonvention - und die Amerikanische Menschenrechtskonvention.

5. Oktober 1998

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