picSchmidBeat.jpg (9392 Byte) Professor Beat Schmid (54) ist Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen. Der gelernte Physiker und Mathematiker zählt zu den führenden Kennern der Entwicklung elektronischer Märkte. Schmid ist unter anderem Hauptpromoter und Gründer der "Electronic Mall Bodensee", dem ersten digitalen Shopping-Center in Europa.



"Es zeichnet sich ein Ende des heutigen Staates ab"

Professor Beat Schmid über das Internet und seine Umwälzungen von Gesellschaft und Wirtschaft

Herr Schmid, Sie kamen eben von einem Kongress in Hawaii zurück. Fliegt man zwecks Kongressbesuchen heute noch in die Südsee?

Beat Schmid: Ja, das wird auch auf absehbare Zeit so bleiben.

Weshalb pflegt man solchen Gedankenaustausch unter Informatikern nicht in technisch angemessener Form - beispielsweise über Videokonferenz oder Internet?

Schmid: Natürlich kommuniziert man heute sehr häufig mit E-Mail. Daneben aber bleiben die klassischen Kanäle wie Zeitungen und Zeitschriften. Und auf Kongressen erkennt man immer wieder, dass die direkte Kommunikation über aktuelle Fragen unerlässlich ist. Der grossflächige Einsatz der Videokonferenz ist heute vor allem mangels genügender Standardisierung noch nicht möglich. Aber eines Tages wird die Videokonferenz so selbstverständlich in den PC eingebunden sein wie heute E-Mail.

Welches war Ihr Erkenntnisgewinn in Hawaii?

Schmid: Bisher standen die technischen Fragen im Vordergrund. Jetzt gewinnen die Fragen der Communities, der globalen interessegebundenen Gemeinschaftsbildung und der Symbolräume, immer stärker an Bedeutung. Auch hat sich erneut bestätigt, dass wir Schweizer bezüglich der neuen Informationstechnologien auf fachlicher Ebene keineswegs hinterherhinken. Uns fehlt es aber - im Vergleich zu den USA - am Drang, aus den Neuen Medien sofort ein Geschäft zu machen.

Wie kamen Sie als Physiker und Mathematiker überhaupt auf die Neuen Medien?

Schmid: Ueber die Informatik und ihre Anwendung in Märkten. Dabei spürte ich schnell einmal, dass das Internet als offenes Netz gegenüber den geschlossenen Netzen wie der elektronischen Börse eine überragende Bedeutung erhalten wird. So haben wir den Firmen schon sehr früh signalisiert, wohin die Entwicklung hinführen wird.

Was gab Ihnen die Sicherheit zur Prognose, dass sich der Markt der Zukunft um die Informationstechnologien in offenen Netzen abspielt?

Schmid: Mit offenen und dezentralen Systemen hat man ganz einfach das grössere Wachstum. Das Internet hat etwa 100 Prozent Wachstum pro Jahr. Eine solche Entwicklung würde in einer hierarchischen Organisation wie einem Betrieb oder einer öffentlichen Verwaltung nicht erreicht. Dort ist jede Idee bewilligungspflichtig.

Informatik und Telematik druchdringen mehr und mehr Berufswelt und Privatleben. Wohin führt uns der Computer in den nächsten zwanzig Jahren?

Schmid: Bereits 50 Prozent der Schweizer Haushalte sind mit einem PC ausgestattet. Im Gebiet der Banken, Reisen und Unterhaltung wird uns dieses gleichzeitig interaktive und ortslose Medium schon bald überall begegnen. Dasselbe spielt sich in den Finanzmärkte bereits ab: Heute sind Geldobjekte im Aether überall verfügbar. Durch das Zusammenwachsen von Fernsehen und Computer wird es zu einem entscheidenden Wachstumssprung kommen. Dadurch werden auch die traditionellen Märkte bis in die Retailmärkte verändert und globalsiert. Ein typisches Beispiel dafür ist der Buchhandel.

Wie stark wird das Internet die klassischen Branchenstrukturen verändern, wenn die Voraussetzungen für ein sicheres und einfach handhabbares Online-Shopping gegeben sein werden?

Schmid: In der Schweiz lassen sich noch unzählige Branchen ihre Pfründe durch den Staat sichern. Diese Pfründe werden aber schon bald zusammenbrechen. Weil das Internet die Räume aufhebt, werden sich die Branchen nicht mehr national, sondern grenzübergreifend organisieren müssen. Gleichzeitig werden die Branchen selbst eine völlig neue Definition erhalten.

Was bestimmt die künftige Definition der Branchen?

Schmid: Die Zukunft bringt uns einen neuen Produkte-Typ, der unter extremem Wachstum immer mehr Informationsanteil enthält. Dadurch wird es möglich, die Wertschöpfungskette völlig neu zu gestalten. Die Akteure in den einzelnen Bereichen werden andere sein, als sie es heute sind: Microsoft bietet bereits heute Lexika an, Zeitungen werden im Internet von Leuten ohne direkte Verwurzelung im Verlagsgeschäft angeboten. Im Banking-Geschäft betreten die Kreditkartenanbieter die Bühne, Computerfirmen werden vielleicht Zahlungsverkehr offerieren.

Gibt es Branchen, die verschwinden?

Schmid: Vor allem der klassische Zwischenhandel wird verschwinden, aber neue Zwischenhändler werden nötig. So sind heute die Tour-Operators gar nicht mehr nötig, weil ihre Dienstleistungen bereits auf Computer-Systemen der Reisebüros angeboten werden. Auch bei Apotheken fragt sich, ob ihre Produkte nicht über das Internet bezogen werden können. Es werden aber auch viele neue Zwischenhändler und Branchen entstehen.

Beispielsweise können via Internet neuerdings Pharmaprodukte eingekauft werden, die in der Schweiz gar nicht zugelassen sind. Damit würden auch die nationalen Kontrollmechanismen unterlaufen. Welches sind die Folgen der globalen Informations- und Produkteflüsse auf die Organisation der Staaten?

Schmid: Für die Staaten sieht es düster aus. Es zeichnet sich ein Ende des heutiges Staates ab.

Bricht alles zusammen?

Schmid: Es bricht nicht alles zusammen, weil die wesentlichen Funktionen weiterhin wahrgenommen werden müssen. Aber die historisch gewachsene Struktur, in der die früheren Pfründe der Fürsten duch die Parteien übernommen und verwaltet werden, wird umgekrempelt. Dem Staat wird das autonom bestimmte Steuersubstrat weggenommen, weil die Unternehmen weltweit Steuern optimieren und Kosten reduzieren.

Sie beschwören das Ende des heutigen Staates. Was meinen Sie damit?

Schmid: Jeder Staat, der einen grossen Teil des Geldes des Bürges vereinnahmt und nach hierarchischen Paradigmen umverteilt, wird nicht überleben können. In Deutschland und in den USA kostet ein Facharbeiter den Unternehmer etwa 10'000 D-Mark. Aber in Deutschland kassiert der Staat davon zwei Drittel - in den USA ein Drittel - und verteilt es um. Das führt zu einem Attraktivitätsgefälle, das mehr und mehr zu einem Konkurrenzverhältnis unter den Nationalstaaten führt.

Was droht?

Schmid: Der Staat wird zu einem erheblichen Teil das Steuersubstrat verlieren, weil die Wirtschaft günstige Steuerdomizile sucht. Durch die elektronischen Märkte mit virtuellen Produkten und Produzenten verschärft sich diese Entwicklung dramatisch. Durch den Export von Leistungen über das Netz wird es den Steuerverwaltungen aber immer schwieriger, zu kontrollieren, wer wo wieviel geleistet hat. Immer mehr Unternehmen bieten ihre Leistungen über das Netz an. Dabei ist natürlich auch die Steueroptimierung ein Thema.

Heisst das Steuerflucht im grossen Stil?

Schmid: Was bei Grossfirmen möglich ist, ist auch bei den Kleinen möglich. Der Anteil an Arbeit, der sein Steuerdomizil wählen kann, wird sicher relativ rasch wachsen. Ich kenne einige KMUs, die in kostengünstigen Standorten wie Tschechien oder St. Petersburg externe Firmen betreiben.

Solche Umwälzungen werden in der Oeffentlichkeit relativ träge zur Kenntnis genommen. Kann ein soziales System die globalen Umwälzungen unter dem Einfluss des frei wählbaren Steuerdomizils überhaupt verarbeiten?

Schmid: Wir befinden uns mitten in einem Wachstumssprung, wie wir ihn von der Agrar- in die Industriegesellschaft erlebten - nur vollzieht sich dieser Wechsel in die Informationsgesellschaft zeitlich zehnmal schneller. Der kollektive Bewusstseinswandel dagegen ist nicht beliebig schnell zu vollziehen.

Ist die Weltgemeinschaft im Begriff, sich in neuen Stämmen zu organisieren?

Schmid: Was sich abzeichnet, ist eine global einheitliche Zivilisation. Aber innerhalb dieser Räume etablieren sich, über Wissenschaft und Oekologie bis hin zur Esoterik, total unterschiedliche Stämme. Der Computer als Medium wird mehr und mehr zu einem Lebens- und Austauschraum für eine riesige Menge unterschiedlicher Gemeinschaften, die ihre Verfassung selbst wählen.

Sie skizzieren hier ein anarchistisches Modell.

Schmid: Das stimmt ein Stück weit. Wir werden ein Auseinanderdriften von Gesellschaftsteilen erleben, das sich heute schon sehr deutlich abzeichnet. Für Angestellte im Finanzhandel einer Grossbank, die mit Kollegen in London, New York und Tokio zusammenarbeiten, hat der Nationalstaat noch etwa die Bedeutung wie für uns die Wohngemeinde. Die einzelnen Individuen des Staates lösen sich als einen sie mitdefinierenden Ort auf und werden Bestandteil von globalen Einzelgemeinschaften von Händlern oder Computerspezialisten. Daneben aber gibt es viele Teile einer Bevölkerung, die gar nicht die Chancen haben, an diesen Prozessen teilzunehmen.

Keimt da nicht auch Potential für soziale Unruhen?

Schmid: Unterschiedlichkeit kann nach meiner Meinung auch eine gewisse Natürlichkeit haben und mehr oder weniger akzeptiert werden.

Ist die Form des heutigen Staates - von der kantonalen Hoheit bis zu Europas neuen Konturen - nicht schon ein Anachronismus?

Schmid: Der Konzeption von Europa liegen teilweise überholte Denkmuster zugrunde, die aus der alten Staatenwelt stammen. Anderseits werden mit der Reduktion und Aufhebung von Grenzen auch Voraussetzungen geschaffen, die der neuen Welt angemessen sind.

Wie wird unser Warenkorb in zwanzig Jahren aussehen?

Schmid: Der Warenkorb wird sich völlig verändern. Der klassische Dienstleistungsbereich wird schrumpfen. Ganz stark im Wachstums-Trend liegen die Informationsprodukte, von Computerspielen über Internet-Angebote bis zur CD-ROM. Hier stellt sich die Frage, wo die Branchen sein werden, die diese Produkte herstellen.

Wohl kaum in der Schweiz.

Schmid: Sicher entstehen im Zusammenwirken von Computerindustrie, Medienindustrie und elektronischer Unterhaltungsindustrie zahlreiche neue Unternehmenstypen. Einer der zentralen Bereiche wird die neue Medienwirtschaft sein. Ich denke hier an virtuelle Shopping-Centers oder Verkaufsläden, künstliche Besprechungsräume oder Spielsalons bis hin zu Avatar, dem Datenkleid.

Datenkleid? Diesen Begriff müssen Sie uns erklären.

Schmid: In den neuen Medien braucht es einen virtuellen Stellvertreter des Menschen, der weit über die elektronische Unterschrift oder die elektronische Identitätskarte hinausgeht. Daran wird auch sehr eifrig gearbeitet. Wer beispielsweise im Unterhaltungsbereich den Cyber Space betritt, muss eine digitale optische Erscheinung haben. Einige glauben sogar, dass im Cyber Space eine neue Mode- und Bekleidungsindustrie entstehen wird. Das muss nicht eine fotorealistische Abbildung der eigenen Gestalt sein. Das kann auch eine abstrakte, symbolähnliche Figur sein, aber diese Stellvertreter-Figuren werden entstehen...

...sozusagen das elektronische Ersatz-Ich.

Schmid: Ja. Die Teilnehmer werden in virtuellen Fernsehspielen bloss noch in einem Datenkleid auftreten. Dieses Datenojekte wollen sie nach Ihren individuellen Vorstellungen konfektioniert haben. Allein dazu ist eine völlig neue kreative Branche nötig, die Mode, Design und Software verbindet. Im Internet sind solche Formen schon anzutreffen. Dort kann man in virtuellen Welten sogar, je nach Umgebung, unter acht verschiedenen Geschlechtern auswählen. Ein anderes Gebiet sind die Hersteller der vituellen Umgebung, die gewissermassen die Arena der Agierenden entwerfen.

Kannt die Schweiz im Aufbau dieser Branchen mithalten?

Schmid: Wir haben alles, was es an Geschicklichkeiten für dieses Geschäft braucht: Gut ausgebildete Fachleute der Informationstechnologie, des Computer- und Medienbereichs, gestalterische Fähigkeiten und das Kapital. Was uns aber fehlt, ist die Goldgräberstimmung.

Ist die im Ausland vorhanden?

Schmid: In den USA gibt es diese Stimmung bis in den Kongress und die Universitäten hinein. Vizepräsident Al Gore trifft sich regelmässig mit den Spitzen der Computerindustrie mit dem Ziel, im nächsten Jahrhundert zur Weltspitze zu gehören. In der Schweiz haben wir nichts Vergleichbares. Die Politik beschäftigt sich mit Infrastrukturen des letzten Jahrhunderts. Niemand kümmert sich um die Frage, wie wir die Infrastrukturen und die neuen Geschäfte der Zukunft aufbauen.

Wo liegen bei anhaltender Passivität die Gefahren?

Schmid: Wir müssen in einigen der wichtigen Software-Bereiche zu Netto-Exporteuren werden. Wenn wir das nicht schaffen, wird der Wohlstand gesenkt werden müssen. Die Gefahr ist absolut real, dass die Schweiz die Entwicklung verschläft. So fehlt uns ein breites Angebot an Medienschulen, in denen die vorhandenen Fähigkeiten auch ausgebildet werden. Der Entstehung von neuen, interaktiv experimentierenden Fernsehstationen stehen regulatorische Hürden entgegen, die möglichst rasch abgebaut werden müssen.

Sind Regeln nicht dennoch nötig - beispielsweise bezüglich der individuellen Verschlüsselung von Daten?

Schmid: Die schiere Fülle der Daten und zahlreiche technische Gründe führen dazu, dass eine Regulierung nur sehr beschränkt möglich sein und sicher nicht klappen wird.

Die Strafverfolgungsorgane haben doch legitime Interessen, die ungestörte kriminelle Kommunikation zu verhindern. Wird es in ferner Zukunft so etwas wie ein staatliches Amt für Datensicherheit geben, das Verschlüsselungslizenzen vergibt, verwaltet und überwacht?

Schmid: Dies wird nicht ganz einfach sein. Heute kann man verschlüsseln mit Techniken, die frei erhältlich sind. Wie soll man hier kontrollieren können...

...indem jede Verschlüsselung durch Hinterlegen des Schlüssels staatlich konzessioniert werden muss.

Schmid: Ich glaube nicht, dass dies machbar ist. Da müsste ja ein grosse Kontrollmaschinierie aufgebaut werden, die dann doch wieder umgangen wird.

Werden die neuen Informationstechnologien der Menschheit bezüglich Demokratie und Menschenrechten eher einen positiven oder einen negativen Saldo bringen?

Schmid: Im Grund handelt es sich um einen Schub an Demokratisierung. Das Vordringen der Märke ist ebenfalls nichts anderes als eine weitergehende Form der Demokratisierung. In geschlossenen Märkten war es viel leichter möglich, dem Einzelnen ein Produkt aufzuzwingen. Künftig werde ich immer freier auswählen können, welcher globalen Gemeinschaft ich angehören will.

Wie aber ist es möglich, dass der Hersteller eines neuen Produktes mindestens temporär ein Monopol halten kann, damit überhaupt eine genügende Marge bleibt?

Schmid: Zum zentralen Wert werden die Symbolräume, vergleichbar mit den Brand Names der herkömmlichen physischen Produkte. Wenn es nun gelingt, einen Brand aufzubauen mit allem, was dazu gehört, dann wird man von diesem Wert lange zehren können.

Sie selbst haben als Ordinarius auch führend am Aufbau der Bodensee-Mall als erstes elektronisches Shopping Center Europas mitgewirkt. Wie weit befruchtet Ihre Lehrtätigkeit auch die branchennahe Privatwirtschaft?

Schmid: Nur schon aus der Umgebung meines Lehrstuhls sind sieben Spin-offs mit über hundert Mitarbeitern entstanden. Und diese Firmen wachsen jährlich mit einer Rate von 50 Prozent. Wir wollen jetzt die Transfer-Kultur noch stärker fördern. Die Gründerzeit ist da.

26. Februar 1998

Zurück zu Wirtschaft
Zurück zur
Hauptseite

(c) by Peter Knechtli