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Kinder-Vergewaltigung in der Region Basel deckt Präventions-Lücken auf

Nach der Vergewaltigung einer 14jährigen Schülerin durch fünf gleichaltrige Ausländer steht die Region Basel ratlos da. Die offizielle Devise: Kühlen Kopf bewahren und Präventionskonszepte überprüfen statt schnelle Schuldzuweisung.


Distanziert schilderte die Basler Jugendanwaltschaft vor einer Woche den erschütternden Sachverhalt: Im Schwimmbad St. Jakob machen fünf Buben, 13- und 14jährig, ein Mädchen an, auf dem Weg nach Hause belästigen und betatschen sie es. Später locken sie es in einen Schulhof der Baselbieter Nachbargemeinde Muttenz. Erzwungener versuchter Oralverkehr, erzwungener vollstreckter Analverkehr in mindestens einem Fall. Mädchen und Eltern stehen unter Schock. Die Bevölkerung reagiert betroffen.

Der brutele Uebergriff hat heikle Merkmale: Bei den Tätern, die allesamt schon Porno-Videos konsumiert hatten, handelt es sich um vier Türken und einen Italiener, beim Opfer um eine junge Schweizerin. Schnell machte sich - nicht nur an Stammtischen - Empörung über die "gewalttätigen Ausländer" breit.

"Ausländer sind im Gewaltbereich nicht auffälliger"

Der Basler Jugendanwalt Christoph Bürgin differenziert angesichts des aussergewöhnlich hohen Ausländeranteils von 40 Prozent unter der 8- bis 18jährigen Stadtbevölkerung: "Viele Ausländer sind im Gewaltbereich überhaupt nicht auffälliger als die Schweizer. Auffällig aber ist, dass in fast 90 Prozent aller Gewaltfälle Burschen verwickelt sind."

Allerdings verschweigt Bürgin nicht, dass Kinder und Jugendliche aus der Türkei, Ex-Jugoslawien und Kosovo-Albaner "überdurchschnittlich" an Gewalttaten auch mit sexuellem Motiv beteiligt sind. Als Gründe nennt er die in muslimischen Kulturen besonders behüteten Mädchen, das in der Familie gebräuchliche Schlagen als Erziehungsmittel und das Macho-Gehabe als verinnerlichtes Männlichkeitsbild. Auch hätten viele Jugendliche Mühe, sich mit dem Spannungsfeld der beiden gleichzeitig erlebten Kulturkreise zurechtzufinden.

Lehrer spricht von "neuem Phänomen"

Ein Basler Kleinklassenlehrer spricht von einem "neuen Phänomen": Die grenzenlose verbale Artikulation als ein Symptom der völligen Hemmungs- und Orientierungslosigkeit. Schon bei einfachsten Anweisungen an Schüler ernte er von den 12- bis 16jährigen Eleven deftige Reaktionen: "Ficken Sie sich in den Arsch."

Die Beispiele sind endlos. An der Wandtafel steht eines Morgens: "Du Arsch!", ein Schüler schreibt "Fuck OL" aufs Lehrerpult, weil ihm der bevorstehende Orientierungslauf nicht behagt. "Die ethischen Grundbegriffe von gut und schlecht", so der Kleinklassen-Pädagoge weiter, "bekommen die Schüler oft erst in der Schule vermittelt". Allerdings bestätigt auch er, dass solche Ausdrücke erzieherischer Verwahrlosung keineswegs ausländertypisch seien.

Nach Meinung von Hermann Blöchlinger, dem Direktor des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen, ist dieser "Skandal" von Muttenz nicht einmal typisch für eine grossstädtische Agglomeration: "Es gibt auch im Kanton St. Gallen einzelne Fälle von Vergewaltigungen durch Sekundar- oder Realschüler." Blöchlinger räumt allerdings ein, dass die vorhandenen Institutionen "eher dann einschreiten, wenn etwas vorgefallen ist". Doch gewinne die Gewaltprävention im Kanton St. Gallen vor allem in den Schulen, aber auch in den Gemeinden, sprunghaft an Bedeutung.

Film provozierte heftigen Widerspruch

Wie schwierig Prävention aber sein kann, zeigt sich an einem Beispiel im Kanton Bern, wo eine Frauengruppe vor vier Jahren einen an Migranten gerichteten Film über "junge Frauen in der Schweiz" (Titel) drehten. Darin stellten drei junge Schweizerinnen aus verschiedener sozialer Herkunft als Diskussionsbasis ihre Haltung zu Arbeit, Familie, Beziehungen und Sexualität dar. Der Film mit seinem Aufklärungsanspruch stiess aber laut Sabine Facuse, Mitarbeiterin der Informationsstelle für Ausländerfragen (ISA) in Bern, prompt auch auf heftigen Widerspruch. Es sei fragwürdig, "soziales Verhalten zu kulturalisieren", meint ihr Beratungskollege Markus Baumann.

Obschon die Basler Attacke zu den krassesten Fällen von Vergewaltigung durch Kinder gehört, will Thomas Bürgi, Leiter des Ressorts Schulen im Basler Erziehungsdepartement "kühlen Kopf" bewahren: "Aktionismus bringt nichts, vielmehr müssen wir unsere Konzepte verstärkt auf Nachhaltigkeit überprüfen." Denn es gebe in der Schweiz "kaum Schulen, in denen Gewalt so stark thematisiert worden ist wie in Basel". So seien die Lehrer ausgebildet, Vorfälle im Pausenhof innerhalb der Klasse zu besprechen. Ebenso hätten einzelne Schulhäuser Regeln für Verhalten und Konfliktbewältigung bei Gewaltanwendung erarbeitet und eingeübt.

Basel verstärkt Prävention

Prävention ist seit vergangenem Herbst auch in mehreren Basler Quartieren ein Thema. Ziel ist es laut einer Projektskizze des Justizdepartementes, die Bevölkerung zu sensiblisieren für die Facetten, Hintergründe, Ursachen und Verhinderung von Gewalt. Dazu gehört auch eine verbesserte Vernetzung zwischen den Organisationen und Gruppierung und die Bildung einer Quartier-Kontaktgruppe als Ansprechpartnerin.

Als weitere diskutable Möglichkeiten nennt Jugendanwalt Christoph Bürgin drei Bereiche: Vermehrter Einsatz von Schulsozialarbeitern zur ambulanten Betreuung, gute Freizeitangebote statt - wie eben in Basel aktuell - die Schliessung eines geführten und sehr beliebten Fun-Parks, möglichst frühe Thematisierung von Sexualität und Gewalt.

Die Recherche unserer Zeitung ergab aber auch, dass an den Staat nicht zu hohe Erwartungen gestellt werden können. Zum einen sind gewalttolerante Eltern häufig schlecht oder gar nicht zugänglich. Zum andern, so bringt es Hermann Blöchlinger auf den Punkt, müsse es zu den erzieherischen Zielen der Eltern gehören, "den Kindern klare Grenzen zu setzen".

22. Mai 1997

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