Der Klima-Kollaps als 10'000-Milliarden-Geschäft

Küchen mieten - Mobilität statt Autos kaufen: Die Klimaveränderung wird Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten auf den Kopf stellen

Keine globale Bedrohung befördert den Schritt ins postfossile Zeitalter so intensiv wie die Klimaveränderung: Sie beschleunigt nicht nur die Einführung nachhaltiger Technologien und öffnet neue Märkte. Sie verlangt von Wirtschaft und Gesellschaft auch ein neues Nutzungsverständnis, das die traditionellen Marktkategorien überwindet.

Stephan Schmidheiny, der seine Wirtschaftskollegen schon mit "Kurswechsel" auf die ökologische Zeitenwende einstimmte, kennt die Unerbittlichkeit des Investments: Die Finanzmärkte kriegen keinen Sonnenbrand, kein Orkan fegt sie weg, sie haben kein Gewissen und verantwortlich sind sie nicht - sie wollen kurzfristige Amortisationen und hohe Gewinne, sonst nichts. In seinem neuen Buch "Finanzierung des Kurswechsels" macht Schmidheiy deutlich, dass die Vermeidung von Umweltschäden billiger ist als ihre nachträgliche Reparatur. Dieser Befund trifft auf keinen Krisenherd stärker zu als auf die Klimaveränderung.

Mit seiner Analyse steht Autor nicht allein. Als der Hurrikan Andrew 1992 über die Bahamas, Florida und Louisiana hinwegbrauste und ein Jahr später Mississippi und Missouri 80'000 Quadratkilometer Kulturland überfluteten, herrschte unter Klimatologen längst Alarmstimmung. "Heute schon", folgert die Schweizer Rück in einem internen Papier, müssen Massnahmen getroffen werden, um die "globale Gefahr" einer Klimaveränderung von "nicht mehr zu bewältigenden Ausmassen" abzuwenden. Denn mit Blitztherapie ist ihr nicht beizukommen, wie der Basler Klimatologe Eberhard Parlow veranschaulicht: Fluorchlorkohlenwasserstoffe haben in der Atmosphäre eine Verweildauer von 180 Jahren und wenn China darauf verzichtet, seinen immensen Bedarf an Kühlschränken FCKW-frei zu decken, wäre ein neuer Klimagift-Schub unvermeidlich.

Die zweitgrösste Rückversicherungsgesellschaft der Welt mit Kapitalanlagen von gegen 36 Milliarden Franken weiss darum, weshalb sie zu den Trendsettern des grünen Investments zählt: Klimaforscher, fortschrittliche Oekonomen und Vordenker zumindest in Europa sind sich darin einig, dass das Gefahrensymptom Klimaveränderung das Signal zu einer weltweiten ökologischen Neuorientierung darstellt.

Umdenken und umlenken machen aber nicht nur die Klimagifte wie das mengenmässig gravierendste Kohlendioxid (CO2) nötig, sondern auch anderere Faktoren wie die steigenden Preise für Energie und Entsorgung und ein schonender Umgang mit Ressourcen. Gefragt sind zum Einstieg ins dritte Jahrtausend neue Technologien und intelligente Strukturen, die den Anspruch der Nachhaltigkeit erfüllen, aber auch immense Investitionen erfordern. Allein die Reduktion des jährlichen Ausstosses von 23 Milliarden Tonnen CO2 auf ein nachhaltiges Niveau von 13 Milliarden Tonnen verlangt nach Schätzungen des Schweizer Zukunftsforschers Willy Bierter einen Bedarf in Höhe von über 10'000 Milliarden US-Dollar.

Die Umschichtung wird enorm sein. Gespräche mit Ingenieuren, Oekonomen und Klimatologen offenbaren eine Optik, die meilenweit über die immobile Alltagspolitik hinausreicht. "Mit Basteln werden wir nicht weiterkommen", glaubt ein Zürcher Risikologe. Eine Technik, die Energiereduktionen von 5 bis 10 Prozent bringt, stehe schon gar nicht mehr zur Diskussion. Nicht einmal "Faktor vier", wie die neue Umweltbibel von Ernst Ulrich von Weizsäcker verheisst, mag da mithalten: "Es braucht einen Quatensprung mit Einsparungen von 90 Prozent." Ein Erdöl- und Benzinpreis von fünf Franken pro Liter gilt hier schon als verbindliches Denkmodell.

Die naheliegenden Antworten auf die Frage, welche neuen Märkte den CO2-Haushalt wieder in seine natürliche Balance zurückführen könnte, weisen auf die zwar bekannten, zahlenmässig aber noch schwach genutzten Innovationen im Umweltbereich: Das intelligent gesteuerte und isolierte Nullenergiehaus, die Wärme-Kraftkopplung sowie die ganze Palette der erneuerbarer Energien von Fotozellen über thermische Solarenergie bis zur Windenergie, dem Technologiemarkt mit Wachstumstrend. Als chemische "Hoffnungsträger" bezeichnet der Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt den Supraleiter, aber auch Hochtemperatur- und Leichtbauwerkstoffe.

Jochen Luhmann, stellvertretender Leiter der Abteilung Klimapolitik am "Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie", glaubt daran, dass solarthermische Kraftwerke im sonnenreichen Erdgürtel "kurz vor dem wirtschaftlichen Durchbruch" stehen, "wenn es durch steuerliche oder andere Massnahmen zu einem Anstieg der Energiepreise kommt". Schon in den nächsten 10 bis 20 Jahren, glaubt Luhmann, wird diese Technologie im sonnenreichen Erdgürtel - etwa in Griechenland, Marokko oder Südamerika - "im grossen Massstab zum Einsatz kommen".

Auch Elisabeth Stern, Geschäftsführerin der Zürcher Finanzdienstleistungsunternehmens VTZ, ist davon überzeugt, dass "innerhalb der Sonnenenergie Quantensprünge anstehen". Einen "Riesenmarkt" ortet sie in der wachsenden Zahl an Selbstbaugruppen, die Kollektorenanlagen zu Preisen von 10'000 bis 12'0000 Franken montieren. Obwohl es um die staatliche Förderung erneuerbarer Energie ruhig geworden ist, sieht Elisabeth Stern in ihrem Geschäft für grüne Investments "unheimlich viel" in Bewegung: "Wir haben 100 Projekte in der Schublade, davon sind 20 sensationell, doch finanzieren können wir nur deren zwei."

An einen "enormen Bedarf" an Umweltmanagement und Umweltberatung glaubt Elisabeth Stern europaweit im Zusammenhang mit der neuen Zertifizierung (EMAS, ISO 14'000), die im Einzelfall einen Zeitbedarf von gegen zwei Jahren beanspruche und "so etwas wie eine ökologische Betriebs-Reorganisation" sei.

Bedarf an Nachrüsttechnologien sieht der deutsche Wissenschafter Luhmann in erheblichen Lachgas-Lecks der chemischen Industrie und speziellen Treibhausgasen bei der Aluminiumproduktion. Tief im Kurs innovativer Anwendungen steht dagegen das Nachrüsten in Form zusätzlicher Filter. Solche End-of-pipe-Lösungen gelten als die Altlasten von morgen. Auch der Hochwasserschutz gegen die drohende Ueberflutung ganzer Landstriche durch das Ansteigen des Meeresspiegels gilt als Symptombekämpfung, zur Beseitigung der klimatischen Ursachen trägt er nichts bei.

Umweltökonom Jürg Minsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaft und Oekologie der Hochschule St. Gallen, macht deutlich, dass das globale Gefahrenbild auch globale Lösungsdimensionen erfordert: Mit der Energie verteuere sich ein zentraler Produktionsfaktor und dies habe Konsequenzen auf das ganze Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: "In allen Märkten, die Bewegung, Energie und Wärme verwenden, werden wir uns schon kurzfristig etwas einfallen lassen müssen." Längerfristig gehe es aber um einen integrierten Lern- und Suchprozess und nicht mehr bloss darum, einen bestimmten Schadstoff herunterzufahren: "Sämtliche Märkte werden Aenderungen erfahren und Anpassungsprozesse durchmachen müssen."

Das postfossile Zeitalter werde von einer "Funktionsinnovation" geprägt sein, die alle Märkte durchdringt und fundamental verändert, glaubt Minsch: "Die Unternehmen werden nicht mehr in Güterkategorien denken, sondern in der Befriedigung von Bedürfnissen." So dürfte die arbeits-, energie- und ressourcenintensive Produktion von Wegwerfkonsumgütern schon bald der Vergangenheit angehören.

Das Schlüsselwort der nachhaltigen Zukunftsmärkte heisst Dienst-Idee. "Es ist überhaupt nicht ersichtlich, weshalb ich für mich zu Hause eine Kaffeemaschine kaufen muss", veranschaulicht Wissenschafter Minsch den neuen Denkansatz an einem praktischen Beispiel. "Ich könnte mir einen Servicevertrag mit einem Generalunternehmer vorstellen, der mir eine funktionierende Küche unterhält, für die ich monatlich 100 Franken zahlen würde." Der Vorteil: Der Unternehmer hätte den Anreiz, dass das Gerät den Bedürfnissen den Kunden entspricht, nicht überdimensioniert ist, nicht veraltet und repariert werden kann. Kaum ein Konsumgut ist von der Dienst-Idee ausgeschlossen: Computersysteme genauso wie Büromöbel oder die Unterhaltungselektronik. "Diese neuen Dienstmärkte werden kommen, und wer dann noch weiterhin in traditionellen Märkten denkt, verliert den Anschluss", glaubt Minsch.

Dass der auf Besitz fixierten Gesellschaft ein historischer Wandel bevorsteht, glaubt auch der in der Region Basel lebende Unternehmensberater Willy Bierter. Der Experte für Produktdauerforschung und Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts spricht wie Minsch von einem "Strukturwandel, der alle herausfordert". Nach seiner Ueberzeugung wird sich die Verschleiss- in eine Nutzungsgesellschaft entwickeln.

In Bierters Zukunftsmodell sind Service, Leasing, Beratung, Reparatur, Reduktion der Stückzahl und Langlebigkeit die entscheidenden Merkmale. Nur so könne die Ressourcenproduktivität in den nächsten 50 Jahren um die Faktoren 4 bis 10 gesteigert werden. "Es geht darum, solche Innovationen zu fördern, die aus einer Kilowattstunde Energie oder einem Kilogramm Stoff möglichst viele Dienstleistungen herausholen."

Das Anwendungsfeld erhöhter Energie- und Ressourcenproktivität ist unerschöpflich - von Kochherden über Kühlschränken bis zum Individualverkehr. Die Autofabrik, greift Bierter in die Zukunft, "verkauft keine Autos mehr, sondern Mobilität". Die Vision: Der Produzent wird zum Flottenmanager und übernimmt damit Funktionen, die heute bereits Anbieter wie Avis oder Sixt wahrnehmen. Folge: Bedürfnisgerechte Ultraleichtfahrzeuge mit geringstem Energieverbrauch oder gar Wasserstoffantrieb werden in einem dichten Netz dezentraler Dienstleistungsbetriebe mit völlig neuen Leistungsprofilen vermietet, gewartet und versichert. Indem die Verantwortung für den Betrieb dem "Service-Manager" übertragen wird, entsteht ein Anreiz zu langlebigen Produkten.

Ansätze sind auf verschiedenen Ebenen vorhanden: In den USA verkauft der weltgrösste Automobilhersteller General Motors mit "EV1" sein erstes Serien-Elektroauto, in Lothringen entsteht das Swatch-Mercedes-Gefährt "Smart" mit einem Benzinverbrauch unter vier Liter, im Baselbiet das zweiplätzige "Twike", eine Mischung zwischen solarem Elektrofahrzeug und Fahrrad.

Da die ökologische Steuerreform - statt Arbeit wird Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung versteuert - "mit Sicherheit kommen wird" (Bierter), würden Reparaturdienste für zahlreiche Güter des täglichen Bedarfs einen entscheidenden Aufschwung erleben. Bierter spricht von einer "Renaissance des Handwerks", denkt beispielsweise an die Reparatur von Schuhen oder Waschmaschinen, und glaubt: "Der Vermeidungs- und Instandhaltungsingenieur wird wichtiger als der Produktionsingenieur."

Als weiteres Beispiel für nachhaltige Zukunftsmärkte nennt Bierter den schonungsvollen Umgang mit Wasser: "Die klassische Bewässerung muss aufhören und durch die Tröpfelbewässerung abgelöst werden." Statt auf dem eigenen Parkplatz hochwertiges Trinkwasser zu verschwenden, kann sich Bierter eine "zentrale Autowäscherei" vorstellen, die Brauchwasser nutzt.

Fazit: Die Finanzmärkte müssen ethisches Profil entwickeln, ob sie wollen oder nicht. Die Oekologie wird spätestens zu Beginn des nächsten Jahrhunderts zur Prämisse unternehmerischen Handelns. Am zukunftsträchtigsten agiert jener Anbieter, der die Erfüllung der Kundenbedürfnisse schon heute an die Anforderungen der Nachhaltigkeit koppelt.

22. April 1996

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