Der couragierte Multikulti im Chor der Schweigsamen

Ob Rassismus oder Schnüffelei: Der bürgerliche Georg Kreis bezieht nonkonform Position

Die Grundsätze der schweizerischen Ausländerpolitik seien rassistisch. Diese aktuelle Einschätzung der Kommission gegen Rassismus liegt ganz auf der Linie ihres Präsidenten: Der bürgerliche Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis (52) markiert nicht zum ersten Mal unpopulär Stellung.

Er ist nach eigenen Aussagen ein "durchschnittlich passives Mitglied der FdP" - und dennoch eines der seltenen Sorte: Immer wieder sagt Georg Kreis zu zeitpolitischen Kontroversen, was Sache ist. Wenn er seine "republikanisch-demokratische Pflicht" tut, dann geht es allerdings nicht um die Interessen des Grosskapitals. Dann geht es um die Menschenwürde.

Wie diese Woche, als die von Kreis präsidierte Anti-Rassismus-Kommission ihrer eigenen Wahlbehörde an den Karren fuhr: Die vom Bundesrat seit fünf Jahren verfolgte Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte sei in ihrem Ansatz rassistisch. Das sogenannte "Drei-Kreise-Modell" bevorzuge Einwanderer aus EU- und Efta-Staaten sowie USA, Kanda, Australien und Neuseeland. Alle Angehören aus dem Rest der Welt - dem "dritten Kreis" - würden als unerwünscht abgestempelt. Dies gelte insbesondere für Arbeitswillige aus dem ehemaligen Jugoslawien.

"Ich war mir bewusst, dass unsere Meinung nicht allen gefallen wird. Aber es ist unsere Aufgabe, Feststellungen auch zur Politik der eigenen Regierung zu treffen", kommentierte Kreis das Medienecho. Dass einzelne Kommentatoren die siebenseitige Stellungnahme als "infam" oder "liederlich" bezeichneten, nimmt er hin: "Ich verstehe mich als Liberaler und einer, der oft zwischen die Fronten gerät."

Politisch siedelt sich Kreis im Spektrum um den Berner Medienprofessor Roger Blum, den Baselbieter FdP-Ständerat René Rhinow und die Zürcher FdP-Nationalrätin Lily Nabholz an. Zu seinen Freunden gehören abr auch Sozialdemokraten wie Radiodirektor Andreas Blum. Selbst "gegen meine eigene Ausgangslage" möchte Kreis jeweils auch "Ueberlegungen entwickeln".

In die Rolle als go-between begibt sich Kreis meist freiwillig und gefasst: "Es gehört zum Mandat, Zielscheibe unflätiger Reaktionen zu sein", sagt er in bedächtig-soigniertem Baseldytsch. So war es auch diesen Januar, als Niggi Schoellkopf, Vorsitzender Meister der drei Ehrengesellschaften, am Gryffemähli eine ausländerfeinliche Rede hielt. "Georg Kreis, Basel" konterte als Leserbriefschreiber mit Klartext: Schoellkopfs Behauptung, dass Asylsuchende gegen die Basler Bevölkerung den "heiligen Krieg" zu führen gedächten, liege in der "Nähe einer strafbaren Diffamierung".

Ohne Rücksicht auf Opportunitäten plädert der multikulturell engagierte Wissenschafter, der eine Dissertation über Zensur im Zweiten Weltkrieg verfasste, für Offenheit und Toleranz gegenüber Ausländern im "faktischen Einwanderungsland Schweiz".

Unabhängigkeit stellte Kreis auch unter Beweis, als er im Gefolge der Fichenaffäre vom Bundesrat den Auftrag erhielt, den Fichenskandal wissenschaftlich aufzuarbeiten. Kritiker warfen ihm vor, als langjähriger Vizepräsident der FdP Basel-Stadt sei er nicht in der Lage, diese delikate Untersuchung vorurteilsfrei zu leisten.

Wie sich herausstellte, hatte der Bundesrat der ersten Fassung des Schlussberichts die Zustimmung verweigert, weil die Autoren der gegen links gerichteten Schnüffelei nach 1945 zu viel und der Observierung nach rechts zwischen 1935 und 1945 zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Die Arbeitsgruppe liess sich, von kleinen Ergänzungen abgesehen, allerdings nicht beirren.

Nach über drei Jahren akribischer Arbeit strafte er die Skeptiker mit einer kühlen Analyse Lügen. Kreis erhielt Applaus von links und Schelte von rechtsaussen.

Das war nicht immer so. 1977 fiel Kreis als junger Historiker erstmals auf nationaler Ebene auf - als Gegenspieler von Niklaus Meienberg. Kreis kritisierte dessen "Erschiessung des Landesverräters Ernst S." in einer stark beachteten Fernsehdiskussion als unseriös. Das bescherte dem Basler während Jahren einen stramm bürgerlichen Ruf.

Diese Etikettierung ist längst überholt. Kreis gilt als unabhängig und einer der besten Kenner der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Seine Arbeiten - etwa jene über den Aktenfund von La-Charité-sur-Loire - gelten als beispielhaft. Auch die sozialwissenschaftliche Historikergeneration der siebziger Jahre anerkennt seine Leistungen.

In den letzten Jahren wirkte Kreis immer wieder als eine Art Schiedsrichter, wenn Linke und Rechte um politisch Brisantes in der jüngeren Schweizer Geschichte streiten. Zu Rate gezogen wurde er beispielsweise von der Generaldirektion der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft, als eine Recherche von Schweizer Radio DRS enthüllte, dass der Vater des heutigen Bundesrates Kaspar Villiger in Süddeutschland Firmen aus ehemals jüdischem Besitz übernommen habe. Das Kreis-Gutachten bestätigte den grundsätzlich richtigen Befund der Radio-Recherche - und stiess damit auf keinen Widerspruch.

Kaum ein Schweizer Hochschullehrer steht so häufig im Rampenlicht der Oeffentlichkeit wie Georg Kreis. Halb Institutsleiter, halb Extraordinarius am Historischen Seminar investiert er die dritte Hälfte seiner Arbeitskraft darstellungsbewusst in öffentliche Auftritte und Aufsätze. Geht es um den Mythos von 1291, die Heimatfigur Helvetia oder die schweizerischen Aussenbeziehungen - Kreis ist dabei. Als Leiter des Nationalen Forschungsprogramms schrieb er den 330seitigen Schlussbericht über "kulturelle Vielfalt und nationale Identität". Das Mitglied der Schweizerischen Unesco-Kommission reist auch mal nach Altdorf, um eine politisch delikate Ausstellung der Basler Künstlerin Bettina Eichin verbal auszuschmücken.

Auch als Mentor und Leiter des Europainstituts der Universität Basel ist er nicht ein Gelehrter standardisierten Zuschnitts. Er sei ein "Homo politicus mit einem sehr dichten Beziehungsnetz". So gelinge es ihm immer wieder, für sein Institut - einer Stiftung - Geldquellen zu erschliessen, heisst es aus seinem Umfeld. Sein Optimismus sei ihm dabei ebenso förderlich wie sein Ehrgeiz.

Beobachter fragen sich, wie der Workaholic ("zur Erholung Waldläufe") dieses Pensum schafft, die weniger umtriebige professorale Umgebung glaubt beim Tanz auf so vielen Hochzeiten auch mal eine Beeinträchtigung seines wissenschaftlichen Tiefgangs konstatieren zu müssen.

Auf dem Bürotisch liegen Gauloises blau, ohne Filter, die Georg Kreis als spartanischer Lustraucher wohldosiert entsorgt. Obschon vom Jahrgang her passend und damaliges Mitglied der Basler Studentenschaft, ist er kein klassenkampferprobter Achtundsechziger. Der Pflasterstein, der gut sichtbar auf seinem Bücherregal liegt, hat nie als Wurfgeschoss gedient - er stammt von einer Baustelle vor dem Kollegiengebäude aus dem Jahr 1968 und ist wohl eher so etwas wie ein reuemütiges Zeugnis seiner damals neutralen Haltung.

Seine Ungebundenheit jedoch liess sich der unverfrorene Radfahrer bis heute nicht nehmen. Das zeigt sein Verhalten auf dem Velo: "Wenn Kinder in der Nähe sind", gesteht Kreis, "halte ich gewisse Signale ein".

25. Mai 1996

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